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Mutters

Agenda

sechsten Band

2. Juni 1965

Mutter versucht, ein Schriftstück mit der Lupe zu betrachten:

Es ist eigenartig, das hilft mir nicht mehr... Ist sie nicht sauber? (Mutter gibt Satprem die Lupe) Alles erscheint wie im Dunst.

Doch, sie ist sauber.

Meine Sicht ist recht seltsam. Zwischen mir und den Dingen liegt immer eine Art Schleier, immer. Ich habe mich schon daran gewöhnt. Ich sehe alles sehr gut, aber wie hinter einem leichten Schleier. Ganz plötzlich, ohne ersichtlichen Grund (im Sinne einer äußeren Logik), wird dann eine Sache klar, genau und deutlich (Geste des In-die-Augen-Springens). In der nächsten Minute ist es wieder vorbei. Manchmal handelt es sich um ein Wort in einem Brief oder sonst etwas Geschriebenes, manchmal ist es ein Gegenstand. Es ist eine andere Qualität des Sehens... (wie kann ich das erklären?) Als ob das Licht von innen scheinen würde statt von außen, es ist kein reflektiertes Licht. Es ist zwar nicht leuchtend und strahlt nicht wie z.B. eine Kerze oder eine Lampe, aber statt eines von außen ausgesandten Lichtes enthält jedes Ding sein eigenes Licht.

Das wird immer häufiger, allerdings auf eine völlig unlogische Art, d.h. ich verstehe die Logik all dessen überhaupt nicht. Ich weiß nicht, warum es für eines gilt und nicht für ein anderes, für dies, aber nicht für jenes. Plötzlich springt mir etwas in die Augen, und dann ist es wie ein Blitz. Und von ungeheurer Präzision! Ganz außerordentlich, mit dem vollen Verständnis der Sache in dem Augenblick, wo man sie sieht. Sonst ist alles wie hinter... ist es ein Schleier? Ich weiß es nicht.

Manchmal (oft) passiert mir dasselbe beim Sprechen. Ich habe den Eindruck, von sehr weit weg oder hinter einer watteartigen Substanz zu sprechen, welche die Präzision der Schwingungen verhindert. Im Extremfall höre ich deswegen manchmal nichts. Gewisse Leute sprechen, und ich höre absolut nichts. Bei anderen höre ich ein sinnentleertes Rauschen. Bei bestimmten Personen höre ich ALLES, was sie sagen. Aber das ist eine andere Art zu hören: ich vernehme die Schwingung ihres Denkens, die bewirkt, daß es sehr klar wird.

Beim Hören und Sehen geschieht mir dasselbe.

Auch mit dem Geschmack fängt es jetzt an, aber das interessiert mich nicht besonders, und so schenke ich dem keine Aufmerksamkeit. Aber erst kürzlich hatte ich die Erfahrung, daß sich die Qualität der Geschmackswahrnehmungen geändert hatte. Manche Dinge hatten einen künstlichen Geschmack (ihr üblicher Geschmack ist künstlich), andere hatten einen WAHREN Geschmack. Das ist dann sehr klar und genau. Aber dies ist weniger interessant, daher beschäftige ich mich weniger damit.

Am meisten hat mich das Sehen beeindruckt. Das Hören... seit Jahren, sehr lange schon, habe ich den Eindruck, daß ich die Leute nicht verstehen kann, wenn sie nicht klar denken. Aber das ist es nicht ganz, es ist nicht so sehr eine Frage des Denkens. Wenn ihr Bewußtsein nicht in dem LEBT, was sie sagen, wenn es nur eine mentale Mechanik ist, dann verstehe ich überhaupt nichts. Wenn ihr Bewußtsein lebt, berührt es mich. Ich habe z.B. festgestellt, daß die Leute, die ich nicht verstehe, diese Tatsache damit erklären, daß ich auf gewöhnliche Weise taub sei. Sie fangen dann an zu schreien, und das macht es noch schlimmer. Als ob man mir Kieselsteine ins Gesicht werfen würde. 1

Es muß eine Einwirkung auf die Organe bestehen.

Aber am meisten interessieren mich meine Augen. Heute morgen in der Früh stellte ich das wieder fest. Ich betrat das Badezimmer, bevor das Licht an war, denn der Schalter ist innen angebracht. Und ich sah alles genauso klar wie bei angeschaltetem Licht. Es gab keinen Unterschied. Aber alles war wie hinter einem Schleier. Dann paßte ich auf (d.h. die Aufmerksamkeit wurde wach), ich sagte mir: "Aber alles wird so trübe, das ist überhaupt nicht interessant!" Somit begann ich zu denken (nicht zu denken, aber mir verschiedener Gegenstände bewußt zu werden). Und plötzlich erblickte ich dieses Phänomen einer Flasche im Schrank, die so leuchtend wurde, wie von einem inneren Leben erfüllt (Geste, als ob sich die Flasche von innen her erhellte). Ach! Ich sagte mir: "Sieh an!" – Eine Minute später war es vorbei.

Aber es war, als ob man mir sagte: "Du kannst. Du siehst nicht mehr so, aber du kannst anders sehen. Du siehst nicht mehr auf gewöhnliche Weise, aber du kannst (innerliche Geste) sehen ..." Man beläßt mir genügend Sehkraft, damit ich mich frei bewegen kann. Aber das ist offenbar die Vorbereitung auf ein Sehen durch das innere Licht anstelle des projizierten Lichtes. Und das... oh! es ist warm, lebendig, intensiv – und von einer Genauigkeit! Man sieht alles gleichzeitig, nicht nur die Farbe und die Form, sondern auch die Schwingungsbeschaffenheit: in einer Flüssigkeit erkennt man die Beschaffenheit ihrer Schwingung – das ist wunderbar. Aber es ist vorübergehend. Es kommt wie ein Versprechen, um jemanden zu trösten und ihm Mut zu machen: "So wird es sein." Gut. (Mutter lacht) Ich weiß nicht, in wievielen Jahrhunderten!

Mit dieser Lupe konnte ich noch sehr gut lesen (wegen dieser Blutergüsse habe ich damit aufgehört, obwohl es meinen Augen wieder gut zu gehen scheint). Aber jetzt hilft mir das gar nicht mehr (Mutter betrachtet ein Dossier mit der Lupe). Es wird nicht klarer, sondern bleibt verschwommen, nur größer (Mutter schaut erneut).

Eigenartig: es ist größer, aber mit demselben... Schleier der Unwirklichkeit.

Schon seit langer Zeit hat mein Geruchssinn eine andere Beschaffenheit angenommen. Sehr lange schon, vor vielen Jahren, hatte ich zunächst geübt, nur zu riechen, wann ich will und was ich will, und ich beherrschte das völlig. Das hat das Werkzeug schon sehr gut vorbereitet. Ich sehe, daß dies schon... Ich rieche die Dinge und nehme eher ihre Schwingungsqualität als nur den Geruch wahr. Es gibt eine ganze Klassifikation der Gerüche: Manche Gerüche machen einen leichter, als ob sie einem Horizonte eröffneten – sie machen einen leichter, lockerer, fröhlicher. Andere Gerüche erregen einen – sie gehören zur Kategorie jener Gerüche, die ich lernte, nicht zu riechen. Die abstoßenden Gerüche rieche ich nur, wenn ich will – wenn ich wissen will, rieche ich; wenn ich nicht will, nehme ich sie nicht wahr. Das geschieht jetzt automatisch. Aber der Geruchssinn war schon vor langer Zeit, als ich noch ein Kind war, weit entwickelt. Damals hatte ich die Augen und den Geruchssinn entwickelt. Aber meine Augen haben allem gedient, allen Visionen, daher ist es da viel komplizierter. Der Geruchssinn hingegen ist so geblieben. Ich rieche den psychologischen Zustand der Leute, wenn ich in ihre Nähe komme, ich rieche ihn, er hat einen Geruch – es gibt sehr spezielle Gerüche... eine ganze Skala. Das habe ich schon sehr lange, es ist etwas voll Beherrschtes, Gemeistertes. Ich bin auch imstande, absolut nichts zu riechen. Wenn es z.B. schlechte Gerüche gibt, die das Körpersystem stören, kann ich die Verbindung vollständig unterbrechen.

In diesem Bereich stelle ich keinen sehr großen Wandel fest, weil das schon vorher sehr entwickelt war. Meine Augen hingegen sind viel weiter fortgeschritten... (wie soll ich sagen?) Zwischen der alten Sehgewohnheit und der neuen liegt ein viel größerer Unterschied. Ich habe wirklich den Eindruck, als wäre ich hinter einem Schleier: ein Schleier. Plötzlich erscheint dann eine Sache, die in der wahren Schwingung lebt. Aber das ist selten, noch ist das selten... Wahrscheinlich (lachend) gibt es nicht viel zu sehen!

Ach ja, neulich war Ys Geburtstag. Ich habe sie kommen lassen. Als sie kam, war ihr Gesicht genau wie das ihres Affen! Sie setzte sich mir gegenüber, wir wechselten einige Worte, ich konzentrierte mich, schloß die Augen, dann öffnete ich sie wieder – sie hatte den Gesichtsausdruck einer idealisierten Madonna. Von einer Schönheit! Da ich den Affen gesehen hatte (er war nicht häßlich, aber doch ein Affe) und dann dies, war ich erstaunt und sagte mir: "Was für eine fabelhafte Plastizität!" Ein Gesicht... oh! Ein wirklich schönes, sehr harmonisches und reines Gesicht mit einer so schönen Aspiration – oh, ein schönes Gesicht. Dann schaute ich noch mehrere Male hin, und es war weder das eine noch das andere, es war etwas (das, was sie gewöhnlich ist) hinter dem Schleier. Aber diese beiden Visionen erschienen ohne Schleier.

Für mich ist das so; ich sehe die Leute nicht – nicht mehr (schon seit langem) –, ich sehe nicht mehr, wie die Leute sehen, wie man gewöhnlich sieht. Manchmal sagt man mir: "Haben Sie bemerkt, diese Person ist so oder so", und ich antworte: "Nein, ich habe nichts gesehen". Andere Male sehe ich Dinge, die keiner sieht. Diese Entwicklung ist viel vollständiger, als einfach von einer Sichtweise zur anderen überzugehen.

Geruchssinn und Sicht wurden im Alter von zwanzig bis fünfundzwanzig Jahren sehr entwickelt. Das war eine bewußte, gewollte, methodische Erziehung, die interessante Ergebnisse zeitigte. Sie hat das jetzige Werkzeug gründlich vorbereitet.

(Mutter schaut auf die Uhr)

Ah, ich habe wieder geschwatzt – das ist Satprems Schuld!

 

1 Sie glaubten nicht nur, Mutter sei taub. Satprem hörte auch einen ihrer Assistenten sagen, der Graue Star sei für die Eigentümlichkeiten von Mutters Sehen verantwortlich. Mutter war also von Leuten umgeben, die sie für alt und gebrechlich oder krank hielten.

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