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Mutters

Agenda

sechsten Band

21. August 1965

(Über ein im letzten "Bulletin" veröffentlichtes Gespräch vom 17. März 1951, in dem Mutter erzählte, daß sie bei ihrer Rückkehr aus Japan Sri Aurobindos Atmosphäre zwei Seemeilen vor Pondicherrys Küste spürte:)

Wie es scheint, haben wir 1958 eine Sache gesagt, während wir jetzt eine andere sagen, nun fragt man mich, was denn stimme. Es betrifft die Atmosphäre Sri Aurobindos, die ich auf dem Meer spürte. 1958 sprach ich von zehn Seemeilen (wahrscheinlich erinnerte ich mich damals besser als jetzt – ich erinnere mich, daß ich mich auf dem Schiff danach erkundigt hatte), und wie es scheint, sagte ich diesmal zwei Seemeilen. Deshalb fragt man...

Welche Bedeutung hat das schon!

So sind sie nun mal. Es ist idiotisch.

Ja.

Es ist erschlagend. Ich habe geantwortet...

Du hast geantwortet, daß es neun-komma-acht-sieben-fünf Meilen waren!

(Mutter lacht) Ja, genau!

Das habe ich ihnen nicht gesagt, ich sagte einfach, man habe die Küste noch nicht sehen können (denn daran erinnere mich). Aber jetzt erscheint mir das wie aus einem anderen Leben...

Was macht das schon aus!

Genau! Das ist idiotisch.

So liest man das, was ich schreibe. Man nimmt eine Lupe und sieht hier einen Fehler, dort einen Fehler...

(Mutter gibt Satprem eine Rose)

Sie ist schön – viel schöner als die Menschen.

Oh, ja, das ist sicher.

(Mutter gibt Satprem noch eine Blume, "Gebet" genannt) Hier, ein Gebet, auf daß sie sich ändern!

Nein, man sollte nie genaue Angaben machen, dann können sie einen nicht daran aufhängen.

Aber ich finde das so idiotisch!

Ja, sie SIND idiotisch – aber es ist nicht ihre Schuld.

Wenn man ihnen sagen würde, dies sei unwichtig, würden sie entgegnen: "Ach, das ist nur eine Ausrede, um den Fehler zu vertuschen!"...

*
*   *

Mutter wirkt müde. Sie verharrt lange in sich versunken und beginnt dann zu sprechen:

Am 15. August war Sri Aurobindo hier auf dem Balkon. Er kam und ging mit mir hinaus. Ich habe niemandem etwas davon gesagt, absolut niemandem. Hier lebt ein Mädchen, das jetzt fünfzehn Jahre alt ist, man hielt sie für eine schlechte Schülerin, unpünktlich, eigenwillig (es war bereits die Rede davon, sie hinauszuwerfen), aber ich ließ sie an ihrem Geburtstag kommen und fand sie gut. Sie schrieb mir vor zwei oder drei Tagen, daß sie am 15. August, am Tag des Darshans, Sri Aurobindo zu meiner Rechten gesehen habe. Sie fragte mich (lachend): "Stimmt das?"

Das amüsierte mich sehr. Ich sagte mir: "So werden hier also moralische Urteile über die Schüler gefällt."

Aber jetzt sehe ich die Kinder nicht mehr; vorher sah ich sie jeden Tag oder jedenfalls regelmäßig einmal im Monat. Als ich noch auf den Sportplatz ging, sah ich sie jeden Tag. Aber jetzt nicht mehr, außer ab und zu an ihren Geburtstagen.

Das interessiert mich jedenfalls. Vielleicht haben andere es auch gesehen und mir nichts gesagt. Aber sie schrieb mir: "Ich sah Sri Aurobindo neben Dir stehen, stimmt das?"

(Schweigen)

Seit dem 15. ist eine ganze Vorbereitungsarbeit für die Transformation im Gange... Wie könnte man das nennen?... Eine Machtübertragung.

Die Zellen, das ganze materielle Bewußtsein, gehorchten bis jetzt dem individuellen inneren Bewußtsein – meistens dem psychischen Bewußtsein oder dem mentalen (doch das Mental ist schon seit langem still). Aber jetzt fängt dieses materielle Mental an, sich wie das andere zu organisieren, oder eher wie alle anderen, wie das Mental aller Wesenszustände. Stell dir vor, es will lernen! Es lernt Dinge und verarbeitet das gewöhnliche Wissen der materiellen Welt. Zum Beispiel habe ich festgestellt, daß es, wenn ich schreibe, sorgfältig bemüht ist, keine Fehler zu machen; und wenn es etwas nicht weiß, dann erkundigt es sich, es lernt, es schaut im Lexikon nach, oder es fragt. Das ist sehr interessant. Es möchte wissen. Weißt du, die ganze Erinnerung, die aus dem mentalen Wissen stammt, ist schon lange, lange verschwunden, und ich empfing die Anweisungen nur noch so (Geste von oben). Aber jetzt baut sich eine Art Gedächtnis von unten her auf, mit der Sorgfalt eines lernenden Kindes, das wißbegierig ist und keine Fehler machen will – das sich seiner Unwissenheit voll bewußt ist und das wissen möchte. Das wirklich Interessante daran ist: obwohl es weiß, daß Dinge wie Rechtschreibung usw. völlig... nicht nur relativ, sondern eine bloße Frage der Übereinkunft sind, ist es wie ein Instrument, das keine Fehler duldet, wie eine Maschine, die perfekt sein will.

Dieses Erwachen hat erst vor kurzem begonnen. Es war wie ein Umschwung des Bewußtseins.

Und nachts bringt das sehr seltsame Tätigkeiten mit sich: eine ganz neue Art, die Leute und die Dinge zu sehen, zu fühlen und zu beobachten. Letzte Nacht zum Beispiel hatte ich mehr als zwei Stunden lang eine klare Vision – eine aktive Vision (das heißt, durch die Handlung) –, wie das menschliche Bewußtsein die einfachsten Dinge kompliziert und schwierig macht. Es war phantastisch, ganz und gar phantastisch. Dieses Bewußtsein wurde spontan durch die göttliche Gegenwart geleitet, aber es folgte den menschlichen Regungen der anderen mit einer klaren Wahrnehmung der zunächst einfachen Sache und der Art, wie diese dann kompliziert wird. Es war symbolisch, bildhaft; eine bildhafte Aktivität in dem Sinne, daß sie nicht rein materiell, physisch war, so wie wir sie hier kennen, sondern in einer symbolischen, bildhaften Physis (auf einer Ebene, wo die materielle Welt wie Lehm gestaltet wird). Das war sehr interessant.

Es war aber eine sehr intensive Transformation im Gange, und... (wie soll ich sagen?) Es ist wie eine Verschiebung des leitenden Willens. Materiell, physisch herrschte ein Staunen und ein Verlangen, sich mit der neuen Richtung zu identifizieren – gar nicht so leicht. Es ist auch schwierig, das zu erklären... Es ist nicht mehr das, was einen früher veranlaßte zu handeln – "handeln", weißt du, alles: sich bewegen, gehen, egal was. Das Zentrum ist nicht mehr dasselbe. Und wenn man aus Gewohnheit versucht, sich an das alte Zentrum zu klammern, oh, dann entsteht ein Riesendurcheinander! Man muß sehr vorsichtig sein, damit nicht die alte Gewohnheit zum Ausdruck kommt.

Es ist schwierig auszudrücken. Es liegt noch zu sehr auf der Ebene des Handelns.

*
*   *

(Mutter macht sich an die Übersetzung von Savitri. Ein oder zweimal stellt sie fest, daß sie nichts hört, wenn Satprem zu ihr spricht.)

...Das ist ein sehr merkwürdiges Phänomen. Es gibt Momente, da sehe ich mit einer viel größeren Präzision als gewöhnlich, so wie ich noch nie zuvor gesehen habe; dann gibt es Momente, wo es mir vorkommt, als läge eine dicke Nebelschicht zwischen mir und der Welt. Ich sehe zwar... (ich WEISS die Dinge eher, als daß ich sie sehe), und es ist wie eine Sicht durch einen Schleier hindurch.

Mit dem Hören ist es das gleiche. Manchmal ist der leiseste Laut ganz klar zu hören; aber der Ton ist nicht hier (im Ohr), sondern... irgendwo (Geste um den Kopf herum oder darüber). In anderen Momenten höre ich überhaupt nichts mehr. Lange lag es an den Leuten, der Stunde oder den Orten – dich zum Beispiel hörte ich immer sehr gut. Aber jetzt ist das auch nicht mehr so, sondern... Heute morgen hatte ich, ja, wie eine dicke Nebelschicht zwischen mir und der Welt, als ich aufstand und aus all dem heraustrat – oh, zwei Stunden lang in einer überaus schrecklichen Aktivität (die aber gleichzeitig äußerst interessant war, in der viele Leute und phantastische Dinge vorkamen).

Nachts zuvor verbrachte ich zwei Stunden mit Sri Aurobindo... Wir saßen, ohne wirklich zu sitzen (das ist etwas Merkwürdiges, aber so konkret). Wir waren damit beschäftigt, Sätze zu korrigieren, das heißt, Ausdrücke zu präzisieren 1 . Er hielt sogar einen Bleistift oder Federhalter zwischen den Lippen, wie ein Kind, fast mit dem Gesicht eines Kindes (ich hatte ihn gerade etwas gefragt), und nach einer Weile sagte er mir: "No, you put it like that"... [Nein, drücke es so aus.] Hinterher fragte ich mich: "Ja, aber wie saßen wir eigentlich?" Da waren keine Stühle, auch standen wir nicht, und dennoch war es sehr bequem!

Dem Denken hier in diesem Gehirn fällt es schwer, sich anzupassen.

Denn seit zwei Tagen (ich will damit sagen, seit zwei Tagen ohne Unterbruch) war ich von der brennenden Frage erfüllt: "Wie wird die neue Welt sein, wenn sie hier Materie geworden ist? Wie wird diese neue Welt sein...?" Das hat mich so sehr nach "innen" gezogen, daß ich... ich war nicht weit weg, aber da war diese dicke Nebelschicht zwischen mir und der Welt, so wie sie ist.

Das war auch heute noch so.

(Schweigen)

Heute morgen zum Beispiel hatten die Zellen des Körpers, d.h. die Form des Körpers, mehrmals die Erfahrung, daß es von einer gewissen Haltung abhängt, ob sie zusammenbleiben oder sich auflösen (ich weiß nicht wie lange, aber es war nicht bloß flüchtig: vielleicht eine halbe Stunde lang) – von einer Haltung oder einem Willen (ein wenig von beidem). Und verbunden mit der Wahrnehmung dessen, was uns veranlaßt, uns zu bewegen, zu handeln, zu wissen; diese Wahrnehmung war manchmal fast doppelt, gleichzeitig: die alte Art wie eine Erinnerung und die neue Art wie etwas Erlebtes, in dem es selbstverständlich überhaupt keinen Grund gibt, sich aufzulösen, außer man entschließt sich dafür – es hat keinen Sinn, es ist etwas Sinnloses: warum sich auflösen?

Gestern war es ein wenig so, und heute morgen kam es sehr stark.

Wenn man in dem Augenblick, wo man zurückfällt... Genauer gesagt: Wenn man in dem Augenblick, wo das alte Bewußtsein wieder an die Oberfläche tritt, nicht sehr wachsam ist, führt es normalerweise zu einem Ohnmachtsanfall.

Es dauerte... oh, lange, die ganze Zeit zwischen fünf Uhr und Viertel vor sechs.

Das vermittelt einem GLEICHZEITIG ein Gefühl der Unwirklichkeit des Lebens und einer Wirklichkeit, die man als ewig bezeichnen könnte 2: Der Tod hat keinen Sinn, er bedeutet nichts. Es ist lediglich eine Frage der Wahl. Eine sinnlose Auflösung, die keine Daseinsberechtigung hat, eine reine Laune der Natur.

Die ganze alte Art zu sehen, zu fühlen, wahrzunehmen, verbleibt wie eine dicke Schicht, eine Nebelschicht, die den Kontakt verschleiert und trübt.

Jetzt habe ich wieder mein normales Bewußtsein zurückgewonnen, deshalb kann ich es ausdrücken; sonst wäre es schwierig. Der Kontrast oder der Widerspruch ist quälend, schmerzhaft. Beide sind unzufrieden: das Alte hat das Gefühl, ohnmächtig zu werden, und das Neue beschwert sich, weil man es nicht in Ruhe läßt. Wenn man sich in einem der beiden Zustände befindet, dann geht es, wenn aber beide zusammen bestehen, ist es nicht sehr angenehm. Es herrscht eine Unsicherheit: Man weiß nicht genau, wo man ist, ob man hier oder dort steht, man weiß es nicht genau.

Nun ja.

Auch wird die Dummheit der Leute und der Dinge grausam, denn schon im gewöhnlichen Bewußtsein haben all diese Dinge für mich keinen Sinn. Wenn man aber gezwungen ist, zwei fast gegensätzliche Zustände gleichzeitig beizubehalten (ein Übergangsstadium) und obendrein noch mit einer Flut von Dummheiten überschüttet wird, dann ist das nicht gerade angenehm.

Das ist wie dieser "Monsieur" (der Tod in Savitri), er gibt solche Dummheiten von sich!

 

1 Erinnern wir uns an das letzte Gespräch (vom 18. August), wo Mutter von gläsernen Sälen, groß wie die Erde, sprach. Interessanterweise war Satprem seit mehreren Wochen in die Durchsicht der französischen Übersetzung der Synthese des Yoga vertieft.

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2 Mutter zögerte beim Sprechen: das gesuchte Wort war eigentlich "unsterblich" und nicht ewig – eine "unsterbliche Realität" (siehe nachfolgendes Gespräch vom 28. August).

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