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Mutters

Agenda

achten Band

15. Februar 1967

(Die folgende Unterhaltung wurde aus dem Gedächtnis notiert. Sie betraf einen jungen Schüler, der nicht verstand, wie alles – Impulse, Begierden usw. – von "außen", von der universalen Natur, kommen konnte, wo doch Sri Aurobindo erklärt hatte, "wir werden zu dem, was wir in uns selbst sehen".)

Ich sagte ihm einmal, daß die Intelligenz in ihm erwache, wenn er imstande sei, sämtliche Gegensätze einander gegenüberzustellen und ihre Synthese zu bilden.

Es fehlt ihnen das Gefühl für die vierte Dimension, deshalb verstehen sie nicht. Dort existiert alles auf sehr konkrete und greifbare Art gleichzeitig, das "Außen" wie das Innen.

Théon zum Beispiel legte großes Gewicht auf die gegnerischen Kräfte, während Sri Aurobindo nicht über sie sprach. Als ich hier ankam, fragte ich ihn: "Aber gibt es denn keine feindlichen Wesen, keine gegnerischen Kräfte?" Er antwortete mir: "Doch, sie existieren, aber um sie zu meistern, ist es einfacher, sie als außerhalb zu betrachten statt in einem selbst als Teil der eigenen Natur." Er betonte die Einheit: alles ist nur das mehr oder weniger entstellte Eine, selbst die "gegnerischen" Kräfte. Im Grunde sind das, was man gegnerische Kräfte nennt, Entstellungen des Bewußtseins. Wenn diese Entstellungen in einem Wesen vorherrschen, seine Natur also entstellten Einflüssen gehorcht und nicht mehr auf den göttlichen Einfluß reagiert, können wir dies als "feindliches Wesen" bezeichnen (es gibt sie, weiß Gott!). Aber hier in Indien betont man vor allem die Idee der Einheit. Offensichtlich kam es bei der Entstehung der Welt zu einer Spaltung, aber es sind hauptsächlich die Tantriker, die diese Tatsache hervorheben; sie sagen, um die Göttlichkeit wiederzuerlangen, müsse man die Einheit der beiden Pole wiederherstellen... all dies sind Formulierungen, Redensarten, die die Lücken stopfen und sich gegenseitig ergänzen. Je nach Individuen, Zeitaltern und Ländern gibt es mehr oder weniger reine oder zutreffende Redensarten. Aber letztlich... Man könnte sagen, der Herr amüsiert sich damit, sich selbst auf alle möglichen Arten etwas zu erzählen.

Steht man ganz unten auf der Leiter des Bewußtseins, werden die Ausdrucksweisen zunehmend konkreter, absoluter, härter und negativer gegenüber all dem, was ihnen widerspricht: das sind die Religionen... Oh, übrigens: angeblich wurde der Papst zum Thema Auroville angesprochen, worauf er wissen wollte, ob es dort eine katholische Kirche geben werde!... Da fragte man mich. Ich sagte: "Nein, keine Kirchen, keine Tempel."

Aber vielleicht wäre es amüsant, wenn alle Religionen aller Länder und Zeiten durch je ein Beispiel vertreten wären. Stell dir vor: eine Stadt der Religionen!... Das Totem neben der Kathedrale! Ach, wie amüsant das wäre! Alle alten Religionen: die ägyptischen, phönizischen und skandinavischen Götter... und dann die neuen.

Sie würden sich alle streiten.

Leider haben die Menschen nicht genug Sinn für Humor. Sonst könnte man sich sehr amüsieren. Der Humor ist ein wunderbares Heilmittel.

Man könnte Besuchsreisen veranstalten wie die der Reiseagentur Cook (!). Eine Tour der Religionen, mit sämtlichen Statuen und Monumenten. Die Erklärungen dazu könnten von irgendeinem Reiseführer vermittelt werden, aber von jemandem mit einer etwas höheren Schau (oh, nicht einmal eine supramentale, nur eine etwas höhere), und man würde die menschlichen Glaubensrichtungen aufzeigen und wie oft die Menschen im Namen "Gottes" Blut vergossen haben.

Wie es scheint, war der blutrünstigste Gott am populärsten. Alle Massaker, alle Schrecken und Folterungen, die im Namen Gottes geschahen...

Dieses Thema interessierte mich sehr, ursprünglich, als die Schule erst dreißig Kinder aufgenommen hatte, wollte ich sogar einen Kurs abhalten 1 – einen Kurs über die Religionen, ihr ganzes Spektrum angefangen von den Göttern mit dem Kopf eines Vogels oder Schakals bis hin zu den Kathedralen. Oh, schon mit fünf Jahren empörte ich mich über diesen "Gott", der in Wirklichkeit ein böses Wesen war, das Blut fließen ließ.

Man könnte eine "Stadt der Religionen" bauen. Aber man müßte die Atmosphäre vermitteln.

Ein Museum der Religionen?

Nein, ein Museum wäre zu intellektuell – eine Stadt der Religionen. Man müßte die Atmosphäre wiederherstellen mit einem Tempel, einer Kirche, einer Kathedrale, einem Totem... (lachend) Den griechischen Tempel könnte man Ananta 2 anvertrauen! Das wäre wirklich einzigartig auf der ganzen Welt.

Aber weißt du, es gibt immer noch so viele fanatische Menschen – mehr, als man glaubt. Man sollte glauben, mit der modernen Entwicklung wäre all dies verschwunden: ganz und gar nicht.

Je weiter ich voranschreite, desto mehr habe ich den Eindruck einer Harmonie. Eine Harmonie, das heißt, eine Vision des Ganzen, wo alles an seinem Platz ist: die Eigenschaften, die Bewegungen, selbst die Formen. Das ist etwas, das sich ausarbeitet, eine Vision nimmt Gestalt an.

Dennoch herrscht äußerlich ein scheinbares Chaos... Weißt du, ein Gleichgewicht besteht aus einer Vielfalt von Verbindungen, die sich gegenseitig stützen und eine Stabilität bilden. Aber wenn man zu einem höheren Gleichgewicht übergehen will, muß all dies gewissermaßen aufgelöst werden (Geste einer Pyramide, die eingeebnet wird), dann auf großzügigere Art neu einbezogen werden, um die Verbindungen auf einem höheren Niveau neu zu gestalten. Der Übergang vom einen zum anderen ist schwierig. Die Störung des Gleichgewichts bereitet ein neues Gleichgewicht vor.

Wir stecken mitten im Chaos.

In so einer Zeit ist die einzige Lösung eine Art Sichzurückziehen (Geste des Rückzugs nach innen), ein unerschütterliches Festhalten an etwas Höherem, um sich daran zu klammern, bis der Sturm vorbei ist. So kann man durchkommen.

 

Addendum

(Schon 1960 hatte Mutter erwogen, einen Kurs über "Die Geschichte der Religionen" abzuhalten, wie aus folgendem Brief auf die Frage eines Lehrers der Schule hervorgeht:)

"... Was war letztlich der okkulte Einfluß des Judentums auf die menschliche Evolution? Je mehr ich darüber nachdenke, desto verworrener und verstrickter erscheinen mir die Fäden von alledem, so daß allein ein Wissen "im Überflug" helfen kann, das Wesentliche herauszuschälen. Somit lege ich alles in Deine Hände, Mutter. Ich hoffe, Du kannst mir sagen, auf welche Weise wir die Frage hier angehen sollen und mir die wesentlichsten Elemente geben, auf denen ich meine Entwicklung aufbauen kann."

November 1960

Ich weiß nicht, was Pavitra dir sagte und dich fragte, aber hier ist eine Zusammenfassung von dem, was ich ihm erklärte. Schon lange trage ich mich mit dem Gedanken, den Schülern – den jungen wie den alten – die besonderen Wahrheiten aufzuzeigen, die am Ursprung aller menschlichen Religionen liegen. Jede von ihnen repräsentiert einen Ausschnitt der ganzen Wahrheit, welche über sie alle hinausreicht. In Sri Aurobindos Schriften wird dies bestens erklärt; ihr müßt sie lesen und studieren, bevor ihr euch überhaupt vorstellen könnt, wie man das Thema angehen kann. Auf jeden Fall kommt es nicht in Frage, wen auch immer zu bitten, dies zu tun. Ich behalte mir dieses Thema vor, denn man kann es nur dann nutzbringend behandeln, wenn man selber die Erfahrung gemacht hat, das heißt, die Wahrheit gelebt hat, die hinter allen Religionen liegt.

Ich hatte lediglich darum gebeten, jemand möge einen vorbereitenden Kurs über "die Geschichte der Religionen" für die Schüler abhalten, und zwar in rein äußerlicher, intellektueller und historischer Hinsicht. Es steht außer Frage, das Thema spirituell anzugehen.

Auf jeden Fall kann nichts Nützliches getan werden, bevor man nicht Sri Aurobindos Schriften zu diesem Thema sorgfältig gelesen hat (in der Synthese des Yoga, im Kapitel "Der Yoga des Wissens" spricht er über die Religionen, auch in den ersten Kapiteln von Essays über die Gita; in Grundlagen der Indischen Kultur, sowie in Gedanken und Aphorismen und vielen anderen Werken). Mach dich folglich zuallererst ans Lesen!

Ich beantworte deine Fragen daher nicht, denn es ist Teil des Kurses, den ich selber abhalten will und den ich auch noch nicht geschrieben habe.

Mit meinen

Segnungen Mutter

 

1 Siehe im Addendum einen Brief Mutters zu diesem Thema.

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2 Ein recht exzentrischer amerikanischer Schüler.

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