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Mutters

Agenda

achten Band

18. Februar 1967

In den letzten Tagen bedachte ich das Verhältnis, das zwischen dem, was in der Vergangenheit erreicht und begründet wurde, und der Haltung einer völligen Annahme dessen, was von der Zukunft kommt, bewahrt werden muß.

Offensichtlich herrscht in der Natur eine Tendenz nach einer langsamen Transformation der Dinge, die wir gewohnheitsmäßig als "gut" bewerten (ausdrucksvoll, gut und harmonisch), zum Neuen hin. Ich betrachtete also, in welchem Maße eine Bindung vorhanden ist: eine Bindung aus Gewohnheit, etwas sehr Spontanes und Nicht-Berechnendes. Gestern erst erlebte ich ein amüsantes Beispiel.

Kennst du die kleine S 1? Hast du nie mit ihr gesprochen?... Anscheinend übertrifft sie die Jungen von sechzehn und siebzehn Jahren in Logik und neuer Mathematik. Ich habe sie heute gesehen. Sie ist offensichtlich bemerkenswert intelligent. Gestern war ihr Geburtstag. Du weißt, daß Y (ihre Adoptivmutter) im Krankenhaus ist; sie hatte mich gebeten, jeden Tag etwas für Toth zu schicken (du weißt, wer Toth ist? 2), denn es scheint, daß er jedesmal, wenn er etwas von mir erhält, zwei Stunden lang völlig ruhig bleibt. Am ersten Tag schickte ich etwas. Gestern war der Geburtstag der kleinen S, und ich dachte, anstatt die Frucht für Toth beim Sekretär zu holen, könnte S um zehn Uhr zu mir kommen, damit ich ihr gleichzeitig ihre Karte und die Blumen geben könnte. Aber alles ging drunter und drüber, und es war nicht sehr "wirksam": sie erhielt meine Nachricht nicht. Als sie kam, war es zu spät, denn es war schon halb elf oder elf Uhr, und ich hatte gesagt "vor zehn Uhr". Daraufhin schrieb sie mir einen Brief... Heute sah ich die Kleine, sie ist wirklich sehr intelligent, kein Zweifel. Hier ist ihr Brief (du mußt wissen, daß sie schon Französisch konnte, als sie zu Y kam, denn sie hatte es bei den Schwestern gelernt – vor etwa drei Jahren besuchte sie die Missionsschule – und seither gibt ihr Y Französischunterricht):

Liebe Mutter,

Ich bin völlig... [hier fehlt ein Wort] Dich verpaßt zu haben. Gestern abend ist niemand gekommen, um es mir zu sagen. Als man mir deine Geschenke für Toth brachte, hat man mir auch nichts gesagt.

Liebe Mutter, seit gestern morgen wollte die große S 3 Dich sehen, und jetzt, wo man mir sagt, daß es zu spät sei, und ich fühle, daß ich Dich nicht sehen werde, ist die große S sehr traurig, und das will ich nicht.

S.

Es ist kein Französisch. Man merkt wohl, daß es keine gewöhnliche Denkart ist... Ich fand es interessant. Aber für eine Französisch-Klasse wäre es überhäuft mit Fehlern.

Aber es ist ein "Ton" darinnen.

Ja, so ist es.

Ich war erstaunt, denn Y (die Adoptivmutter) kann offensichtlich gut Französisch und ist sehr wohl fähig, es ihr richtig beizubringen; sie gab sich nicht Mühe (oder wollte es nicht), ich weiß nicht was. Aber es steckt eine gewisse Kraft darin.

Oh, ja.

Interessant.

Im Grunde wollen wir... Wir wissen, daß wir keine künstliche neue Sprache brauchen, aber doch etwas ausreichend Flexibles, um sich an die Bedürfnisse des neuen BEWUSSTSEINS anpassen zu können, und diese Sprache wird sich wahrscheinlich durch die Eliminierung starrer Gewohnheiten aus einer Kombination der bestehenden Sprachen herausbilden.

Das Besondere an den Sprachen (über die Wortunterschiede hinaus) ist die Anordnung, in der man die Ideen darstellt: der Aufbau der Sätze. Die Japaner (und besonders die Chinesen) lösten das Problem, indem sie nur das Zeichen für die Ideen setzten. Dann, unter äußerem Einfluß, fügten sie phonetische Zeichen hinzu, um einen Satz zu bilden; aber die Anordnung und der Aufbau der Ideen sind immer noch verschieden. In Japan und in China ist es anders. Wenn man das nicht FÜHLT, kann man eine Fremdsprache nie wirklich beherrschen. Wir sprechen immer gemäß unserer uralten Gewohnheit (im Grunde ist es für uns nur bequemer, weil es ein Automatismus ist). Wenn ich aber zum Beispiel "empfange", ist es nicht einmal der Gedanke sondern das sich formulierende Bewußtsein Sri Aurobindos, wobei eine Art fortschreitende Annäherung im Ausdruck besteht. Manchmal kommt es sehr klar durch, aber häufig ist es eine spontane Vermischung von französischen und englischen Formen, und ich habe den Eindruck, daß sich etwas anderes ausdrücken will. Manchmal läßt er mich an der Aufzeichnung etwas korrigieren; manchmal kommt es völlig richtig durch, je nachdem... Ja, es hängt von der Durchlässigkeit ab. Wenn man sehr ruhig ist, geht es sehr gut. Doch selbst da sehe ich, daß es nicht ganz Französisch und nicht ganz Englisch ist. Es sind nicht einmal so sehr die Worte (die Worte sind nichts), sondern DIE ANORDNUNG, in der sich die Dinge präsentieren. Nachher sehe ich es objektiv: teilweise präsentiert es sich in französischer, teilweise in englischer Anordnung; dies führt zu einer Mischung, die weder das eine noch das andere ist, wodurch sich das auszudrücken sucht, was man "die neue Ausdrucksform des Bewußtseins" nennen könnte.

Das läßt mich vermuten, daß auf diese Weise etwas Form annehmen wird und daß eine zu strenge, zu enge Bindung an die alten Regeln ein Hindernis für die Entwicklung des Ausdrucks wäre. In dieser Hinsicht ist das Französische dem Englischen weit unterlegen – das Englische ist viel flexibler. Aber die Sprachen in Ländern wie China und Japan, die ideographische Zeichen verwenden, erscheinen unendlich viel geschmeidiger als unsere eigenen Sprachen.

Sicherlich!

Durch die Nebeneinanderstellung von Zeichen können sie neue Ideen und Dinge viel leichter ausdrücken.

Heute, mit dieser "neuen Logik" und der "modernen Mathematik", haben wir einen Satz neuer Zeichen, die universal anerkannt werden, d.h. dieselben Zeichen drücken in allen Ländern, ganz unabhängig von der jeweiligen Landessprache, dieselben Ideen oder dieselben Dinge aus.

Diese neuen Gedanken und Erfahrungen – diese neue Logik und die moderne Mathematik – werden jetzt in allen höheren Kursen gelehrt, aber alle Grund- und Aufbaustudien sind bei der alten Formel geblieben. Ich hatte schon ernsthaft vor, in Auroville Grundschulen und Gymnasien zu gründen, die auf dem neuen System basieren – als Versuch.

Aber wie soll man vorgehen? Dieses Problem interessiert mich sehr. Was können wir tun, um diese neue Ausdrucksweise zu erfassen?

Wir können nur... Meine Erfahrung ist: Wenn ich richtig ausdrücken will, was Sri Aurobindo sagt – er "sagt" es nicht, ich weiß nicht, wie ich das ausdrücken soll... sein Bewußtsein selbst wirkt (Geste einer Projektion) – nun, als erstes muß das Mental ruhig sein, das ist klar. Aber die Schwierigkeit liegt im Übergang zum Ausdruck. Ich habe das studiert und gesehen, wie stark diese spontane und automatische Bindung an alte Gewohnheiten besteht.

Ja.

Man müßte sich um dieses selbe empfangende Schweigen bemühen (was ich auch zu tun versuche), und die Inspiration oder das inspirierte Bewußtsein die notwendigen Elemente sammeln lassen. Dazu muß man sehr ruhig sein. Wir müssen sehr anpassungsfähig sein, und zwar im Sinne von sehr surrendered [hingegeben]; ich meine, es mit so wenig wie möglich gewöhnlichen Tätigkeiten vermengen – fast wie ein Automat sein. Aber mit der vollen Wahrnehmung des Bewußtseins, das sich ausdrücken will, damit sich nichts dazumischt. Das ist das Wichtigste: dieses Bewußtsein empfangen und sich daran halten wie an... etwas Heiliges, ohne daß irgend etwas dazukommt. Es besteht also sozusagen ein Problem der Anziehung 4 und der Konkretisierung im Ausdruck. Ich sage mir immer, wenn ich viele Sprachen beherrschen würde, könnte das von ihnen allen Gebrauch machen; unglücklicherweise kenne ich nur zwei (wirklich "kennen" trifft nur für zwei zu) und habe eine nur sehr oberflächliche und minimale Einsicht in zwei oder drei andere – das genügt nicht. Aber ich bin mit sehr unterschiedlichen Methoden in Kontakt gekommen: mit der des Fernen Orients und des Sanskrits und natürlich mit den Methoden des Westens. Das ergibt trotzdem eine gute Grundlage, die aber unzureichend ist – die Gelehrsamkeit geht mir völlig ab. Ich hatte schon immer den Eindruck, daß die Gelehrsamkeit das Denken verknöchert – das Gehirn austrocknet. (Aber ich achte Menschen sehr, die gelehrt sind, oh, und ich frage sie um Rat, aber... für mich geht das nicht!)

Vor sehr langer Zeit erzählte mir Sri Aurobindo von sich selbst, von seiner Jugend, seiner Ausbildung, da stellte ich ihm die Frage: "Warum bin ich als Individuum so mittelmäßig? Ich kann zwar alles tun – alles, was ich versuchte, konnte ich tun – aber nie auf hervorragende Art: immer so (Geste der Mittelmäßigkeit)." Er antwortete mir: "Weil dies eine große Anpassungsfähigkeit und Spannweite ermöglicht; denn die Leute, die auf einem Gebiet perfekt sind, bleiben konzentriert und spezialisiert." Damals faßte ich dies als Freundlichkeit oder als Tröstung auf, wie man sie einem Kind gibt. Aber jetzt wird mir klar, daß das Wichtigste ist, nicht starr zu sein: nichts darf starr und endgültig sein, es darf kein Gefühl einer Vollkommenheit der Verwirklichung geben – das wäre das Ende des Fortschritts. Das Gefühl der Unfähigkeit (eben im Sinne der Mittelmäßigkeit, von etwas, das nichts Außergewöhnliches an sich hat) hält einen in Erwartung (Geste der Aspiration nach oben) von etwas Besserem. Das Wichtigste ist die Anpassungsfähigkeit – Anpassungsfähigkeit und Weite: nichts als unnütz oder schlecht oder niedrig von sich weisen. Nichts als wirklich höher oder schön fixiert belassen. Immer offen bleiben, immer offen.

Das Ideal ist, diese Plastizität und Aufnahmefähigkeit, dieses Hingegebensein zu besitzen, das heißt, eine so vollkommene Annahme des Einflusses, daß sich das Instrument bei allem, was kommt, natürlich, spontan, mühelos anpaßt, um es ausdrücken zu können. Bei allem: bei den bildenden Künsten, in der Musik und in der Schriftstellerei.

(Schweigen)

Von Natur aus war ich recht schüchtern, und ich hatte kein großes Vertrauen in mein Können; allerdings war da auch immer das Gefühl, alles tun zu können, falls es wirklich nötig sein sollte. Bis zum Alter von zwanzig oder einundzwanzig sprach ich sehr wenig, und nie, wirklich nie, hielt ich so etwas wie eine Rede. An Unterhaltungen nahm ich nicht teil, ich hörte wohl zu, aber ich selbst sprach sehr wenig... Dann wurde ich mit Abdul Baha – von der Baha'i Religion – in Kontakt gebracht; er hielt sich damals in Paris auf. Zwischen uns entwickelte sich eine Art Vertrautheit, und ich pflegte zu seinen Treffen zu gehen, weil mich die Sache interessierte. Dann, eines Tages, als ich in seinem Zimmer war, sagte er mir: "Ich bin krank und kann nicht sprechen; geh du und sprich für mich." Ich sagte: "Wer, ich? Ich kann nicht sprechen." Er erwiderte: "Du brauchst nur hinzugehen, dort Platz nehmen, still und konzentriert verharren, und dann wird das, was du sagen mußt, einfach kommen. Geh, tu es, du wirst schon sehen!" Nun denn (lachend), ich tat, wie er mich's geheißen hatte. Es waren ungefähr dreißig bis vierzig Leute dort. Ich ging also hin, setzte mich in ihre Mitte und wurde sehr still, absolut still, ohne einen Gedanken... nichts. Plötzlich begann ich zu sprechen, eine halbe Stunde lang – ich weiß nicht einmal mehr, was ich ihnen sagte. Danach waren alle sehr zufrieden. Ich ging zurück zu Abdul Baha, der mir sagte: "Das hast du wunderbar gemacht!" Ich erwiderte: "Ich war es nicht!" Von jenem Tag an hatte ich den Dreh raus, dank Abdul Baha, verstehst du – ich pflegte ganz still zu werden, und alle Worte kamen einfach. Man muß vor allem die Empfindung des "Ichs" verlieren. Das ist die große Kunst in allem, für alles, was immer man auch tut. Ich habe mich auf die Malerei, die Bildhauerei, sogar auf die Architektur eingelassen, ich habe auch musiziert – für alles, aber auch wirklich alles trifft das zu: Wenn man sich von der Empfindung der eigenen Person trennen kann, wird man offen für... die Kenntnis der betreffenden Sache [Skulptur, Malerei usw.]. Es sind nicht notwendigerweise Personen, die sich eurer bedienen, sondern der Geist der Dinge.

Nun, ich glaube, für die Sprache sollte es dasselbe sein. Man müßte mit jemandem in Verbindung stehen oder durch dieses Wesen mit etwas noch Höherem: mit dem Ursprung selbst. Und vor allem: sehr passiv. Aber nicht untätig – passiv im Sinne von vibrierend, aufnahmefähig, aufmerksam, "Das" kommen und sich ausdrücken lassen. Man sieht ja später, was dabei herauskommt... Wie gesagt, man ist beschränkt durch sein Wissen, aber vielleicht liegt dies daran, daß man noch zu sehr eine Person ist, und wenn man völlig plastisch wäre, könnte es anders sein: es gab Beispiele von Leuten, die eine Sprache sprachen, die sie nicht kannten. Folglich...

Das ist interessant.

Für alles besteht das große Geheimnis darin, das Bewußtsein... DAS Bewußtsein ohne Begrenzungen zu halten. Und dann setzt es dies (das Instrument) in Bewegung. Später, wenn die Transformation dann stattfindet, wenn sie total und effektiv geworden ist, wird voraussichtlich eine bewußte Zusammenarbeit bestehen; aber bis jetzt handelt es sich nur um surrender, eine Selbsthingabe; dies stellt sich zur Verfügung – es gibt sich mit Enthusiasmus, mit Freude hin –, es gibt sich hin, damit DAS Bewußtsein sich seiner bedient.

Wenn es so ist, geht alles gut.

Alle alten Gewohnheiten, oh...

So gesehen, wird einem die totale Absurdität der Urteile klar, die zu mehr als 99% auf alten Gewohnheiten basieren: alte Gewohnheiten, was als gut oder schlecht, richtig oder falsch gilt usw.; das automatische Urteil, die automatische Annahme oder Ablehnung...

Diese Geschichte der kleinen S hat mich viel gelehrt. Denn ich sah die Kleine heute morgen. Sie ist schwarz – aber sie war leuchtend, wirklich leuchtend. Ich glaube nicht, daß sie sich dessen bewußt ist (höchstens in dem Maße, wie Y ihr geschmeichelt hat – das ist immer möglich), aber bei ihr ist es sehr spontan, sie versuchte nicht, sich in Pose zu werfen, sie kam nicht für ein Getue: sie kam ganz einfach, um die Frucht und die Blume für Toth zu holen. Sie stand hier vor meinem Tisch, ich sah sie eintreten und sagte: "Das ist seltsam", diese Kleine, die so dunkelhäutig ist... sie war viel heller als die anderen.

Dieser Brief ist so stark!

Sie würde keine Examen bestehen.

 

1 Ein zwölfjähriges Tamilmädchen von sehr dunkler Hautfarbe, das drei Jahre zuvor von einer europäischen Anhängerin adoptiert worden war.

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2 Toth ist ein Affe, der von derselben europäischen Anhängerin adoptiert wurde und ihrer Ansicht nach eine Reinkarnation des ägyptischen Gottes Toth war.

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3 "Die große S" ist das Kind selbst.

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4 Die "Anziehung" der Worte, die dieses Bewußtsein annehmen.

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