Mutters
Agenda
achten Band
19. April 1967
Gestern abend erhielt ich ein langes Schriftstück von Y über die "vorgeburtliche Erziehung"... Sie sagt, daß das Kind während der ersten Lebensmonate das Bedürfnis habe, die Haut seiner Mutter zu berühren, und dies (Mutter zeigt das Foto einer nackten Negerin, die ihr nacktes Kind auf dem Rücken trägt) sei die ideale Art, ein Kind zu tragen!
Ich habe das gestern gelesen, denn sie hatte so viel von dieser vorgeburtlichen Erziehung gesprochen. Sie sagt, ein Kind sei mit drei Jahren bereits völlig erzogen, und ich wollte wissen, was sie vorschlägt, aber es ist keine einzige konkrete Sache darin, sie sagt nicht, was getan werden sollte.
Erst auf der letzten Seite.
Ja, da ist etwas.
Das Kind der Zukunft
Es ist nie einer Regung der Ungeduld begegnet.
Es hat nie eine zornige Stimme gehört.
Es hat nie jemanden gesehen, der sich beklagt.
Es hat niemals gehört: "ich" oder "mein".
Nichts hat es je aus seiner Einheit gezogen.
Man hat ihm nie gesagt: "Komm her!" oder seine physischen Rechte verletzt.
Man hat ihm nie gesagt: "Du mußt!" und seine psychischen Rechte verletzt.
Man hat es immer wie eine sich entwickelnde Seele behandelt.
Das Universum ist seine Mutter und die Zukunft seine Schule.
Ein Kind, zu dem man nie sagen darf: "Komm her!"... Das wird kompliziert, wenn man ihm nicht sagen kann: "Komm her!"
Man sagt ihm nie: "Du mußt".
Ach ja, das ist gut.
Doch wo sind die Eltern, die sich so verhalten!
Ja, zuerst müßte man sich um die Erziehung der Eltern kümmern.
Ja, zuallererst.
Erst auf der letzten Seite findet sich eine Andeutung, was diese Erziehung sein könnte, aber es ist die negative Seite, das, was man nicht tun sollte. Das ist alles. Die positive Seite ist nicht da.
Sie hat mir schon einmal von der vorgeburtlichen Erziehung erzählt, und ich sagte mir, da ist etwas dran, aber dies hier...
Offensichtlich weiß man aus Erfahrung, daß man die Form gestalten kann, die man sich vorstellt; in großen Linien kann man den Charakter geben, den man sich vorstellt; das alles ist völlig richtig. Also muß man als erstes die Mutter erziehen, nicht das Kind. Dann kann man durch eine sehr strenge Beherrschung der eigenen Reaktionen verhindern, daß sich gewisse falsche Regungen im Kind einnisten können. Aber all dies ist nicht neu, das weiß man schon lange – ich habe dies selber getan, als ich ein Kind erwartete. Von daher weiß ich es.
Aber noch einmal: man muß zuerst die Mutter erziehen, bevor sie ein Kind bekommt, darauf kommt es an.
Schon damals war mir klar, daß man ihm Ideen, Aspirationen, Tendenzen vermitteln kann (ich wußte nicht, wie dies möglich ist), aber sie sagt nichts über das Vorgehen.
Nur eine Sache erwähnt sie, und zwar an einer Stelle, wo sie davon spricht, daß eine Trennung während der ersten Wochen für das Kind sehr schmerzlich sei, und der physische Kontakt, der Hautkontakt, das Berühren, nötig seien, um dem Kind den Geschmack am Leben und das Verständnis für das physische Lebens zu geben. Das ist möglich. Aber heute sagen die Ärzte: "Berührt euer Kind bloß nicht, legt es in eine Wiege, es darf nicht getragen werden, denn das verformt es." Das steht in einem völligen Gegensatz zu Ys Theorien. Es ist möglich, nicht wahr, es kann durchaus sein, daß sie recht hat. Aber das ist ein kleines Detail ohne Bedeutung. Ich hatte mir viel mehr erhofft und war ein wenig enttäuscht. 1
Aber das, was der Mann aus Burma gesagt hat, ist gut; das ist viel interessanter: die Idee, daß es höchste Zeit ist, daß die menschliche Natur sich ändert. Das ist richtig. Denn im gewöhnlichen Leben sagen einem die Leute: "Was kann ich schon daran ändern? Ich bin eben so." Immer erhält man diese Antwort.
(Schweigen)
Eigentlich müßte man ein kleines "Lehrbüchlein" für die Kinder der Zukunft haben. Ein Heft, um den Vater und die Mutter schon vor der Empfängnis vorzubereiten (besonders die Mutter, das ist das Wichtigste). Dann ein Heft für die ersten drei Lebensjahre: welches sind die erforderlichen Qualitäten, welche Haltung ist einzunehmen... Auf jeden Fall müßten zunächst einmal der Vater und die Mutter von der Möglichkeit – zumindest der Möglichkeit – eines Kindes, das kein bloßer animalischer Mensch ist, wissen.
Dann sollte die Empfängnis völlig ohne Begierde geschehen – eine sehr schwer zu erfüllende Bedingung.
Die Mutter sollte während der ganzen Schwangerschaft in einer sorgfältig vor allen herabziehenden Einflüssen geschützten Atmosphäre leben: ein ideal schöner Platz, ein wunderbares Klima, wo alles harmonisch ist, und ein völlig spontanes, freies, harmonisches und schönes Leben, sicher vor allen Vulgaritäten des Lebens. Und sie selbst sollte das Ideal des neuen Kindes in sich tragen, und zwar nicht mechanisch, sondern bewußt, gewollt, in einer absolut "schöpferischen" Atmosphäre, könnte man sagen.
All diese Bedingungen sind sehr schwer zu erfüllen. 2
1 Hier ein Auszug aus Ys Bericht: "Allein das Kontaktgefühl ist vollkommen entwickelt (beim Neugeborenen). Es gestattet ihm, in einem intimen Kontakt mit seiner Mutter zu verbleiben und die Zeit der Schwangerschaft, die eine Zeitspanne intensiver Entwicklung ist, in sicherer Geborgenheit zu verlängern. Die geringste Trennung kann ein nicht wiedergutzumachendes Trauma verursachen, dieses "Mit-dem-Kopf-Aufschlagen" ist die übliche aber anomale Bedingung für die Neugeborenen der zivilisierten Welt. Primitiven Völkern ist dies sehr wohl bekannt, und die Mutter trägt das nackte Kind auf ihrer nackten Haut. Sie werden nie voneinander getrennt... Solange die anderen Wahrnehmungsorgane sich noch nicht ausgebildet haben, empfängt das Kind seine Erziehung hauptsächlich durch die Hautoberfläche... Wenn man will, daß es sich wirklich inkarniert, daß es zum Freund der Materie wird, daß ihm sein Körper so vertraut wird wie seine Seele, muß man für es einen Yoga der Zärtlichkeiten und des Spielens erfinden." (Es sei hier angemerkt, daß der Versuch der Anwendung dieser verlockenden fehlerhaften Theorien katastrophale Resultate zeitigen wird, wie wir später in der Agenda sehen werden: die sogenannten "Zärtlichkeiten" dienen hauptsächlich dazu, dunkle vitale Kräfte in den Körper des Kindes zu ziehen, und man riskiert vielmehr, ein Wesen des Sexs zu inkarnieren als alles andere.)
2 Mutter antwortete der Schülerin, die ihr die Studie über die Ausbildung des "neuen Kindes" geschickt hatte: "Ich habe Deine Arbeit mit größtem Interesse gelesen – es ist ein wichtiger Aspekt des Problems. Aber eine Veröffentlichung ist unmöglich. Wenn sie das sehen und lesen, würden sich zu viele kleine Mädchen einbilden, sie seien dazu bestimmt, ein "Sonnenkind" auf die Welt zu bringen – das wäre eine Katastrophe." Dann fügte Mutter hinzu: "Um dieses Werk zu vollbringen, sollte man alle Begierden hinter sich gelassen haben; das ist leider meistens nicht der Fall, wohingegen Ehrgeiz und Eitelkeit die häufigeren Übel sind."