Mutters
Agenda
achten Band
Gestern hat mir jemand geschrieben:
"Was ist denn nun das Göttliche?"
Ich antwortete.
Ich sagte ihm, dies sei nur eine Antwort, um ihm zu helfen, es gebe aber Hunderte davon, die alle genau so gut seien:
Das Göttliche läßt sich leben, kann aber nicht definiert werden...
Ich fügte noch hinzu: "Aber da du mir die Frage stellst, antworte ich."
Das Göttliche ist ein Absolutes an Vollkommenheit, die ewige Quelle alles Existierenden, deren wir uns zunehmend bewußt werden, und gleichzeitig sind wir seit aller Ewigkeit schon Er.
Einmal sagte Amrita mir auch, daß es für ihn etwas schlicht Undenkbares sei. Da antwortete ich ihm: "Nein, so ist es keine Hilfe. Sie müssen nur denken, daß das Göttliche alles ist (im größtmöglichen Ausmaß), alles, was wir in unserer höchsten und erleuchtetsten Aspiration werden wollen. Alles, was wir werden wollen, das ist das Göttliche." Er war so glücklich! Er sagte mir: "Ach, so wird es ganz einfach!"
Aber wenn man es anschaut – wenn man aus seiner mentalen Tätigkeit heraustritt und die Erfahrung ansieht, die man hat – und sich sagt: "Wie soll ich es nur ausdrücken? Wie soll ich es erklären?"... Das Nächste und Zugänglichste ist folgendes: In dieses "Etwas", das wir werden möchten, legen wir instinktiv, spontan alles hinein, dessen Existenz wir anstreben, alles, was wir für das Wunderbarste halten, alles, was der Gegenstand einer intensiven (und unwissenden) Aspiration ist, all dies. Mit alledem nähern wir uns einem "Etwas" und... Im Grunde kann man den Kontakt nicht durch Gedanken aufnehmen; man erlangt den Kontakt durch etwas IDENTISCHES im Wesen, das durch die Intensität der Aspiration erweckt wird. Sobald man den Kontakt – diese Verschmelzung – hergestellt hat, sei es auch nur eine Sekunde lang, ist für einen selbst keine Erklärung mehr nötig: es ist etwas, das sich auf absolute Weise aufdrängt und außerhalb und jenseits aller Erklärungen liegt.
Um aber dorthin zu gelangen, legt jeder all das hinein, was ihn am leichtesten weiterführt.
Wenn man die Erfahrung hat, dann ist im Augenblick der Verschmelzung, der Verbindung für das Bewußtsein klar, daß allein etwas Identisches das Identische erkennen kann und es folglich der Beweis dafür ist, daß DAS hier ist (Mutter deutet auf das Herzzentrum). Es ist ein Beweis, daß DAS da ist. Durch die Bemühung der Aspiration erwacht DAS.
Als ich die Frage erhielt, war es ganz so, als ob diese Person mir sagte: "Ja, ja, all dies ist sehr gut, aber was ist denn nun das Göttliche?" Als ich seinen Brief las, herrschte ein vollkommenes Schweigen, ein Schweigen von allem, und etwas wie EIN EINZIGER Blick – ein einziger, allumfassender Blick –, der sehen will... Ich verharrte so in meiner Betrachtung, bis die Worte kamen. Da schrieb ich: "Hier ist EINE Antwort." – Es gäbe hundert andere... die alle genau so gut wären.
Und gleichzeitig, als der Blick auf dieses zu definierende "Etwas" gerichtet war, herrschte überall ein weites Schweigen und eine große Aspiration (Geste wie eine aufsteigende Flamme), mit allen Formen, die diese Aspiration je angenommen hat. Das war sehr interessant... Die Geschichte der Aspiration der Erde... auf ein wunderbares Unbekanntes hin, das wir werden wollen.
Und jeder – jeder, der dazu bestimmt war, die Verbindung herzustellen –, glaubt in seiner Einfalt, daß die Brücke, die er überschritten hat, die einzige sei. Ergebnis: Religionen, Philosophien, Dogmen, Glaubensbekenntnisse – Kampf.
Alles in allem gesehen ist es sehr interessant, wirklich reizend, mit einem solchen Lächeln, das schaut, oh! dieses Lächeln... das schaut. Dieses Lächeln ist, als ob es sagen würde: "Warum macht ihr alles so kompliziert, es könnte doch so einfach sein!"
Um es in literarischer Form auszudrücken, könnte man sagen: "So viel Kompliziertheit für eine so einfache Sache: sich selbst sein."
(Schweigen)
Was ist denn deiner Meinung nach das Göttliche?
Ich weiß es nicht, ich stelle mir nie diese Art von Fragen.
Ich auch nicht! Diese Frage habe ich mir nie gestellt. Denn sobald ein Bedürfnis bestand zu wissen, kam spontan eine Antwort. Keine Antwort in Worten, über die man sich streiten kann... ein Etwas, wie eine Schwingung. So ist es jetzt fast ständig.
Natürlich machen die Menschen alles kompliziert (ich glaube, sie lieben das sehr, weil...), für alles, bei der GERINGSTEN Sache steigt eine Welt von Schwierigkeiten auf. Ich verbringe meine Zeit damit, zu sagen: "Ruhig, ruhig, ruhig – seid still!" Selbst der Körper lebt in Schwierigkeiten (auch er scheint sie zu lieben!), aber plötzlich singen die Zellen spontan ihr OM... In allen Zellen erhebt sich eine kindliche Freude, und sie sagen (Mutter nimmt einen verwunderten Ton an): "Ach, wirklich? Können wir das tun? Haben wir das Recht, so zu handeln?" Das ist irgendwie rührend.
Das Resultat stellt sich sofort ein: diese große friedliche und allmächtige Schwingung.
Stünde ich nicht unter dem ständigen Druck der Wünsche aus meiner Umgebung, würde ich sagen: "Warum wollt ihr eigentlich wissen, was das Göttliche ist? Was nützt euch das? – Ihr müßt es nur werden." Aber sie verstehen den Scherz nicht.
- Ich möchte wissen, was das Göttliche ist.
- Aber nein, völlig nutzlos!
- Ach?!
Scheinbar entrüstet antworten sie: "Ach, ist das etwa nicht interessant?"
- Du brauchst es nicht zu wissen: du mußt es WERDEN.
Die große Mehrzahl der Intellektuellen scheint nicht zu begreifen, daß man etwas tun oder sein kann, ohne zu wissen, was es ist.
Um sich einen Scherz zu erlauben, könnte man auch sagen: "Man ist Gott dann am nächsten, wenn man es nicht weiß."
*
* *
(Etwas später liest Mutter einen Brief von Sri Aurobindo vom 25. Januar 1935 über den russischen Kommunismus und die Spiritualität vor.)
"Ich weiß, daß die Russen den derzeitigen Trend nach Spiritualität und Mystizismus für ein Phänomen der kapitalistischen Gesellschaft in ihrem Verfallsstadium halten. Aber bewußt oder unbewußt eine ökonomische Ursache in alle Phänomene der Menschheitsgeschichte hineinlesen zu wollen, ist ein Teil des auf Karl Marx' Trugschluß beruhenden bolschewistischen Evangeliums. Die Natur des Menschen ist nicht ganz so einfach und weist mehr als eine Saite auf – sie hat viele Linien, und jede einzelne ruft ein Bedürfnis in unserem Leben hervor. Die spirituelle und mystische Linie ist eine von ihnen, und der Mensch versucht, sie auf verschiedene Weisen zu befriedigen, durch allen möglichen Aberglauben, durch unwissende Religiosität, Spiritismus, Dämonenglauben und vieles mehr; in seinen erleuchteteren Teilen durch eine spirituelle Philosophie, den höheren Okkultismus und alles übrige; in seinen höchsten Teilen durch die Vereinigung mit dem Ganzen, mit dem Ewigen oder Göttlichen. In Europa begann die Tendenz zur Suche nach Spiritualität mit dem Überdruß am wissenschaftlichen Materialismus des neunzehnten Jahrhunderts, einer Unzufriedenheit mit dem angeblichen Primat der Vernunft und des Intellekts und mit dem tastenden Suchen nach etwas Tieferem. Dies war ein Vorkriegsphänomen, das zu einer Zeit begann, als noch keine Bedrohung durch den Kommunismus bestand und die kapitalistische Welt auf der Höhe ihres anmaßenden Erfolgs und Triumphes stand, und es entsprang eher einer Revolte gegen das materialistische, bürgerliche Leben und seine Ideale, als dem Versuch, diesen zu dienen oder sie in den Himmel zu heben. Die dem Krieg folgende Desillusionierung diente und widersetzte sich ihm zugleich: widersetzte sich ihm, weil die Nachkriegswelt entweder in Zynismus und Sinneslust oder in Bewegungen wie den Faschismus und Kommunismus zurückfiel; diente ihm, weil in den tiefsten Geistern die Unzufriedenheit mit den Idealen der Vergangenheit oder der Gegenwart mit all ihren mentalen, vitalen oder materiellen Lösungen für das Problem des Lebens stetig wuchs und allein der spirituelle Weg übrigblieb. Zwar tändelt der europäische Geist, der kein großes Wissen in diesen Dingen hat, mit vitalen Irrlichtern wie dem Spiritismus oder der Theosophie, oder er fällt in die alte Religiosität zurück, aber die tieferen Denker, von denen ich spreche, gehen entweder darüber hinaus, oder sie gehen auf der Suche nach einem größerem Licht durch sie hindurch. Ich stand mit vielen von ihnen in Kontakt, und die genannten Tendenzen sind sehr deutlich. Sie kommen aus allen Ländern – nur eine Minderheit stammte aus England oder Amerika. Rußland ist anders: ungleich den anderen verharrte es in einer mittelalterlichen Religiosität und machte keine Periode der Revolte durch – als die Revolte dann später kam, war sie natürlich antireligiös und atheistisch. Erst wenn diese Phase erschöpft ist, kann der russische Mystizismus wieder aufleben und anstelle des engen religiösen Wegs eine spirituelle Richtung nehmen. Allerdings hat ein umgekehrter Mystizismus den Bolschewismus und sein Bestreben eher zu einem Dogma als zu einem politischen Thema gemacht, zu einer Suche nach dem geheimnisvollen paradiesischen Jahrtausend auf Erden statt des Aufbaus einer rein sozialen Gesellschaft. Im allgemeinen aber versucht Rußland auf kommunistischer Grundlage all dies zu verwirklichen, was der Idealismus des neunzehnten Jahrhunderts vergeblich zu erhalten hoffte, inmitten einer Welt industrieller Konkurrenz oder auch gegen sie. Ob er damit wirklich Erfolg haben wird, muß die Zukunft entscheiden – gegenwärtig klammert er sich mit unverminderter Spannkraft und gewaltsamer Kontrolle nur an das, was er hat."
Sri Aurobindo
(25. Januar 1935)
Welch wunderbar klare Schau! So allumfassend, er vergißt nichts.
Jedes Wort ist voller Sinn.
Die Dinge gehen jetzt schnell voran. Er sah ganz klar: es geht so, wie er sagte, jetzt geht es im Galopp voran.
Und die Amerikaner!... Sie gaben vor, eine "Abrüstungskampagne" in Gang zu setzen, aber sie selbst sehen keine Möglichkeit dazu: Sie sind voller Angst und Mißtrauen. Ihre "Lösung" ist, Waffen an alle Welt zu verkaufen! (Mutter lacht) Mit der Idee, vor allem Geld zu verdienen, und dann "die Gleichheit herzustellen"!