Mutters
Agenda
achten Band
27. Mai 1967
Erinnerst du dich an S.B.? Er lebte hier... Er hatte viele Schüler und besaß gewisse yogische Kräfte. Er kam hierher und wurde wie vom Blitz getroffen, als er Sri Aurobindo sah: er fiel in Ohnmacht. Nachher sagte er, dies sei durch die Macht der Offenbarung geschehen. Er hielt sich etliche Jahre lang hier auf; er wohnte dort drüben. Schließlich ging er fort, denn er empfing alle seine Schüler hier, und ich sagte ihm: "Nein, so geht das nicht, es ist besser, Sie suchen sich anderswo eine Bleibe." Also ging er. Während vieler Jahre hörte man nichts mehr von ihm, aber seit einiger Zeit manifestiert er sich wieder (nachts sah ich ihn relativ häufig) und dies mit einer enthusiastischen Glut! Eben hat er mir diese Karte aus Riga in Lettland geschickt – er mußte nach Rußland reisen (Mutter reicht Satprem die Karte):
"Grüße! Ich erinnere mich an Dein Wunder. Auf einer großen Konferenz hier sprach ich über unseren göttlichen Meister und von Deiner Milde. Segne mich!
Stets der Deine."
Er war in Rußland... Mit einem Schlag kam es über ihn: ein großer Enthusiasmus.
Eine Zeitlang wohnte er in jenem Haus an der Ecke, im jetzigen "Aurovillebüro". Das Haus hat ein unebenes Dach (ein Teil ist von einer bestimmten Höhe, um dann plötzlich ein halbes Stockwerk abzufallen). Einmal ging er in Meditation dort oben auf und ab und stürzte dabei. Offenbar hatte er gerade seine Mahlzeit eingenommen, was zu einer Obstruktion führte. Er sagt, daß er sich innerhalb einer Stunde der Konzentration geheilt habe. Wohl möglich...
Er war zugleich sehr kindlich, begeisterungsfähig und großspurig, aber mit einem recht großen Eifer, einer Art sehr junger Begeisterung... Jetzt muß er schon ziemlich alt sein. Ich sehe ihn immer umgeben von einer großen Menschenmenge. Er ist jemand, der sich Gehör zu verschaffen weiß. Nicht ohne Interesse. Ich hatte es nicht darauf angelegt, ihn wegzuschicken, aber erst stritt er sich mit irgend jemandem (ich weiß nicht wem), um dann anzufangen, in aller Öffentlichkeit eine große Anzahl von Schülern zu empfangen; da sagte ich: "Es ist besser, Sie sehen Ihre Schüler woanders." Darauf ging er.
Er hat viele Bücher auf Tamil geschrieben.
Das ist schon die zweite Karte, die ich von ihm habe. Auf der ersten sagte er, er wolle eine zweite Weltreise machen, insbesondere gehe er nach Europa, und in Rußland sei er auch eingeladen. Er hat ein ganzes Buch über Sri Aurobindos Yoga verfaßt (auf Tamil).
*
* *
Nach einem Schweigen
D ist in die tibetanischen Gebiete gereist (nicht nach Tibet, das ist unmöglich, aber in den Norden Indiens, wo die tibetanischen Flüchtlinge leben); sie hofft, einen Guru zu finden. Ich sah sie gestern, sie hat sich sehr verändert. Sie erzählte mir, sie werde eines Tages... (ich weiß nicht, ob sie etwas von mir gelesen hatte, denn gewöhnlich liest sie nichts), sie sagte mir: "Oh, ich hatte eine Offenbarung, plötzlich begriff ich, daß ich überhaupt nichts von dem verstand, was du sagst, denn wir geben den Worten nicht dieselbe Bedeutung." Ich erwiderte: "Das stimmt!" – Sie darauf: "Jetzt habe ich wirklich verstanden, was es bedeutet, nichts zu verstehen!"... Sie war verstört, denn natürlich sagten alle: "Warum wollen Sie dort suchen, was Sie hier schon haben?" Ich antwortete ihr: "Das kann dir doch egal sein! Sag ihnen doch einfach die Wahrheit: daß du nicht in der Lage bist hierzubleiben." Sie antwortete mir: "Ja, das versuche ich ihnen zu sagen." (Sie versuchte es ihnen auf Umwegen zu sagen.)
Aber in ihrer Aspiration liegt eine große Aufrichtigkeit...
Sie ist abgereist. Heute morgen, bevor sie wegging, schickte sie mir die Blume "Licht ohne Dunkelheit" 1 .
*
* *
Kurz danach sinkt Mutter in eine lange Meditation
Ich sah eine ganze Reihe Rosen, etwa so groß (ungefähr 25 cm), eine nach der anderen – prächtig! In vielen verschiedenen Farben. Das will sicher etwas bedeuten: eine nach der anderen kamen sie, präsentierten sich, wie um zu grüßen, um dann wieder zu gehen – so große Rosen... Ich hatte mich nämlich beschwert! 2 Es war genau vor dir (Geste auf der Höhe des Herzens), prächtige Rosen von vollkommener Gestalt und in allen Farben.
Im Grunde ist das mein Müßiggang (das Meditieren). Wenn ich so verharre, wird es sofort sehr angenehm, und es gibt immer etwas Hübsches zu sehen. Das ist mein Müßiggang.
Ich fühle mich so wohl dabei.
Oh, ja!
Alles hört einfach auf, und dann... Etwa so wie (ich drücke es in Worten aus): "Deine Gegenwart, Herr, nichts als Das", worauf alles zum Stillstand kommt. Manchmal sehe ich nichts, manchmal... Aber sag mir, ist das nicht eine Ironie: wenn du da bist, sehe ich immer etwas!... Manchmal sehe ich gar nichts, einfach so (glückselige Geste). Manchmal höre ich, aber das nur bei einer weniger tiefen Konzentration: man hört.
Das war wirklich hübsch. Ich erlebte ein sehr hübsches Schauspiel! Es kam wie... weißt du, wie beim Zeigen von Dias: eines kommt von der einen Seite, husch, wird es sichtbar und verschwindet, worauf eines von der anderen Seite kommt, husch, und es verschwindet. Und es war immer direkt vor dir.
Wir sollten arbeiten.
Was mich betrifft, ich bin geistig müde.
Du bist müde... Aber das Mental soll sich ja auch nicht rühren! Es muß so verharren. Oh, es ist schrecklich, wenn das Mental arbeitet.
Aber wir müssen doch eine mentale Arbeit verrichten.
Ich bewundere dich sehr!
Ja, ich mich auch! Und ich beschwere mich.
Erholst du dich wenigstens ein bißchen, wenn ich auf der Höhe meines Müßiggangs bin?
Oh, ja, gewiß.
(Mutter legt die Papiere, die sie hervorgeholt hat, wieder hin und schickt sich an, die Meditation wiederaufzunehmen.)
Nein, nein! Ich fühle mich erholt.
Zu schade, du hast mir eine Chance gegeben!
*
* *
(Dann liest Satprem einen Ausschnitt aus der Agenda vor, den er mit einigen Kürzungen im nächsten Bulletin veröffentlichen wollte:)
Genau dieser Abschnitt interessiert mich am meisten!
Jene, die es schockiert, werden mich für verkalkt halten.
Ich kann nichts mehr lesen – sobald man anfängt, mir etwas vorzulesen, finde ich es so langweilig! Worte, Worte und nochmals Worte...
(Protest von Satprem)
Schon jetzt versteht niemand mehr etwas von dem, was ich schreibe. Einige Leute wagen, mir dies vorsichtig zu sagen.
Trotzdem, mach eine Kopie von alldem, und dann werde ich das dem hochweisen Pavitra zeigen. Wenn er meint, das gehe noch an... (Mutter lacht), nun dann ...
Es wird immer einige geben, die es nicht verstehen.
Die meisten.
Was macht das schon!
Es genügt, wenn einer versteht.
1 Eucharis grandiflora.
2 Zu Beginn des Gesprächs hatte Mutter bedauert, daß die Rosen wegen der Hitze verwelkt waren.