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Mutters

Agenda

achten Band

26. Juli 1967

(Mutter reicht Satprem lachend eine Notiz, die sie eben geschrieben hat:)

Das Ziel, das wir anstreben, ist die Unsterblichkeit. Von allen Gewohnheiten ist der Tod gewiß die am hartnäkkigsten eingewurzelte Gewohnheit.

Man könnte unsere Welt als die Welt der schlechten Gewohnheiten bezeichnen.

Ich weiß nicht, seit geraumer Zeit besteht eine Art wohlwollender Ironie, lächelnd und... aufbauend. Als ob ein spezieller "Geist" gekommen wäre. Und noch etwas (dieses ist aber nicht neu), das Sri Aurobindo einen censor [einen Kritiker] nannte. Er sagte mir: "You have a very strong censor in your atmosphere" [Du hast einen sehr starken Kritiker in deiner Atmosphäre]. Dieser kritisierte mich ununterbrochen; jetzt weniger, aber er ist immer noch da. Von Zeit zu Zeit sagt er mir: "Du schockierst die Leute nur. Sie erwarten etwas Edles, Großes, Eindrucksvolles, aber Du nimmst ständig einen ironischen Tonfall an." Gestern kamen wieder Leute, die mich sehen wollten, und ständig kommen mir Scherze in den Sinn, ständig. Ich scherze mit ihnen, und ich sehe... (lachend) daß sie erschrocken zu sein scheinen.

Es ist, als ob ich ständig sagte: "Aber nein! Nehmt es nicht ernst... nehmt es nicht so ernst... Genau das macht euch unglücklich! Ihr müßt lernen zu lächeln!" In der Art. Und dann ist das Wichtigste, sich über sich selbst lustig zu machen: einzusehen, wie lächerlich man ist – beim geringsten kleinen Schmerz ist man voller Selbstmitleid, ach!...

Manchmal protestiert man.

Eine ganz seltsame und amüsante Atmosphäre. Aber es ist ein sehr gutes Heilmittel gegen diese eingewurzelte Krankheit des Selbstmitleids. Der Körper ist voll davon, beim geringsten Wehwehchen bemitleidet er sich – das erschwert alles ganz schrecklich.

Und was für Geschichten... Die Geschichten von der Schule sind unbezahlbar! Gestern abend war ich plötzlich sehr ungehalten über den Jungen, der beschuldigt worden war, abgeschrieben zu haben. Er hatte gesagt, er habe nicht abgeschrieben, und ich sah, daß er nicht abgeschrieben hatte. (Aber ich erkannte etwas fast noch Schlimmeres!) Ich sagte: Keine Prüfungen mehr. Ein schrecklicher Aufruhr überall! Dann schreibt mir K, der wirklich ein guter Bursche ist: "Wäre es nicht besser, ich sage diesem Jungen, Sie hätten sich entschieden, er habe nicht abgeschrieben, denn vielleicht macht er sich Sorgen." Ich dachte: Armer K! Schließlich sagte ich ja, denn es war eine sehr freundliche Regung.

So rief er den Jungen und sagte ihm, daß die Examen abgeschafft seien und daß man nicht mehr darüber sprechen würde, die Sache sei abgeschlossen. Sobald der Junge ihn verließ, traf er seine Kameraden und erzählte eine Welt von Lügen: Ich hätte von K verlangt, sich zu entschuldigen, dem Jungen sein Bedauern auszudrücken, ihn zu rehabilitieren und solche Geschichten... eine Reihe erschreckender Lügen (auch Lügen über mich). Ich fühlte eine Regung der Sympathie für K, so gehandelt zu haben; es beweist, daß er eine edle Seele hat, denn er war so überzeugt vom Gegenteil, akzeptierte aber, was ich ihm sagte, und er handelte so, weil er dachte, der andere mache sich Sorgen. Und dann die ganz abscheuliche Reaktion des Jungen... So mußte ich mich zurückhalten (innerlich): ich war nicht zufrieden. Ich hatte erwartet, daß dieser gute Wille eine etwas noblere Antwort hervorriefe, und all das ist eine Art Entwürdigung... Gestern stand ich kurz davor, dem Jungen innerlich einen Schlag zu versetzen – ich hielt mich zurück, ich gab ihm keinen, aber offensichtlich hat er sich in eine schlechte Lage gebracht.

Nun schreiben sie mir: "Wie kann man wissen, ob die Kinder dem Stoff folgen, wenn man keine Prüfungen abhält?" Ich erklärte den Unterschied zwischen einer Art individueller Kontrolle durch Beobachtung: aus einer Bemerkung, einer unerwarteten Frage usw., womit man das Kind einstufen kann, und der anderen Methode, bei der man ankündigt: "In acht Tagen werdet ihr eine Prüfung ablegen, und man wird euch ein Thema stellen über das, was ihr gelernt habt." Worauf alle zu büffeln beginnen, dann ist wieder Schluß; der mit einem guten Gedächtnis wird durchkommen. Ich erklärte all das 1 .

Mein Einspruch gegen diese Entscheidung hätte gar nicht die Lehrer betroffen, sondern die Schüler, denn ich erinnere mich an meine Schulzeit: Wäre da kein vierteljährlicher oder halbjährlicher Zwang gewesen, noch einmal durchzusehen, was man im Unterricht gelernt hatte, mein Gott, man hätte es laufen lassen.

Sei's drum!

Aber es ist eine Art Disziplin, die bewirkt, daß man die Dinge noch einmal durchsieht.

Reicht das Interesse an dem Thema nicht aus, um einen anzuregen, es sich einzuprägen und das Ergebnis dessen, was man gelernt hat, zu behalten, dann ist man selber schuld.

Der Standpunkt der Schüler ist falsch, und der Standpunkt der Lehrer ist falsch.

Der Standpunkt der Schüler ist: Sie lernen nur deswegen, um den Anschein eines Wissens zu erwecken, um ihre Examen zu bestehen und sich den Kopf mit allerlei Dingen vollzustopfen... Was die Lehrer betrifft, so möchten sie eine möglichst leichte Kontrolle haben, um dann ohne große Mühe Noten geben zu können, mit einem Minimum an Aufwand. Ich sage: Jeder Schüler ist eine Individualität, jeder Schüler soll nicht deshalb kommen, weil er sagen können will: "Ich habe gelernt, und dann werde ich meine Prüfungen ablegen", sondern weil er wissen möchte und den Willen zu wissen hat. Der Lehrer soll sich nicht an die leichte Methode halten, indem er ein Thema gibt und sieht, wie jeder darauf antwortet, ob es gut oder schlecht ist und mit dem übereinstimmt, was er unterrichtet hat oder nicht: er muß wissen, ob das Interesse und die Anstrengung des Schülers aufrichtig sind, jeder seiner eigenen Natur entsprechend – dies ist unendlich schwieriger für den Lehrer, aber das ist Erziehung. Und sie protestieren.

Sicherlich, im Hinblick auf die Lehrer, da stimme ich völlig zu...

Ja, gerade sie protestieren! (lachend) Die Schüler protestieren nicht. Aber ich schrieb den Lehrern: "Die Schüler, die ihrem Lehrer gefallen wollen, oder die auswendig lernen, um den Anschein zu erwecken, zu wissen, was sie nicht verstanden haben, diese Schüler sind uninteressant – und gerade von denen sagt man mir immer: das ist ein guter Schüler!"

Aber, weißt du, ich erinnere mich sehr gut an meine eigene Haltung beim Lernen. Ich kann mich auch deutlich an all meine Schulgefährtinnen erinnern: wer für mich ein intelligentes Mädchen, und wer eine Wortdrescherin war... Ich habe ein paar amüsante Erinnerungen diesbezüglich, denn nur zu lernen, um einen klugen Anschein zu geben, hielt ich für sinnlos. Ich hatte zu jener Zeit ein hervorragendes Gedächtnis, aber ich machte nie Gebrauch davon. Und ich mochte nur, was ich verstand.

Ein einziges Mal in meinem Leben nahm ich an einer Prüfung teil (ich weiß nicht mehr welche). Jedenfalls hatte ich gerade die Altersgrenze erreicht, d.h. zur Zeit des normalen Examens war ich noch nicht alt genug gewesen, und so machte ich die Prüfung im Herbst, zusammen mit jenen, die beim ersten Mal durchgefallen waren. Nun, ich erinnere mich, daß wir eine kleine Gruppe waren. Die Lehrer waren sehr verärgert, weil sie mitten aus ihren Ferien gerissen worden waren, und die Schüler waren größtenteils mittelmäßig oder auch widerspenstig. Ich beobachtete also alles (ich war sehr jung, etwa dreizehn oder vierzehn) und nahm alles genau wahr. Ein armes kleines Ding war an die Tafel gerufen worden, um eine mathematische Aufgabe zu lösen – sie hatte keine Ahnung, wie sie zu lösen war und schwankte und zauderte. Ich schaute mir das an – ich hatte gerade keine Frage zu beantworten – ich schaute und lächelte. Oh, du meine Güte! Als der Lehrer das sah, wurde er sehr ungehalten. Sobald das Mädchen wieder an seinem Platz war, rief er mich auf und sagte mir: "Lös du sie!" Natürlich löste ich die Aufgabe (ich liebte die Mathematik wirklich sehr, und außerdem verstand ich sie, ich hatte einen Faden dazu).... Du hättest sein Gesicht sehen sollen!... Ich war nicht da drin (in der kleinen äußeren Person): Ich war ständig in der Position eines Beobachters. Ich amüsierte mich außerordentlich. Ich weiß also, wie die Kinder sind, wie die Lehrer sind; all das weiß ich, ich amüsierte mich wirklich sehr.

Mein Bruder studierte zu Hause höhere Mathematik für die Eintrittsprüfung ins Polytechnikum, was er schwierig fand. Deshalb hatte meine Mutter einen Privatlehrer angestellt, der ihn auf die Prüfung vorbereitete. Ich war anderthalb Jahre jünger als mein Bruder, ich schaute ihm beim Lernen oft zu, und alles wurde klar: das Wie und Warum, alles war klar. Einmal geschah folgendes: Der Privatlehrer zerbrach sich den Kopf, mein Bruder zerbrach sich den Kopf, als ich plötzlich herausplatzte: "Aber so ist es doch!" Den Ausdruck auf dem Gesicht des Privatlehrers hättet ihr sehen sollen!... Es scheint, daß er meiner Mutter beim Gehen sagte: "Es wäre gescheiter, wenn Ihre Tochter studieren ginge!" (Mutter lacht) All das war wie ein Bild, es machte so viel Spaß!

Ich kenne die Situation, ich erinnere mich, ich kenne die Reaktionen, die Angewohnheiten... Deshalb wollte ich mich hier nicht um die Schule kümmern, denn ich wollte mir nicht den Kopf darüber zerbrechen: Alle fallen sie über mich her! Dann wurde ich dazu gezwungen wegen der Geschichte des Abschreibens. Jetzt amüsiert es mich. (Lachend) Aber ich sage ihnen verwirrende Dinge.

Es ist so unterhaltsam, so unterhaltsam!

Eine Zeitlang besuchte ich eine Privatschule. Ich ging nie in eine öffentliche Schule, weil meine Mutter der Ansicht war, eine solche Schule eigne sich nicht für ein Mädchen. Aber ich besuchte eine Privatschule, die damals einen guten Ruf genoß; die Lehrer an dieser Schule waren wirklich kompetente Leute. Der Geographielehrer war der Autor einiger Bücher, die sehr bekannt waren, und er hatte eine angenehme Art. Wir lernten also Geographie – die Arbeit mit Landkarten machte mir enormen Spaß, weil man diese zeichnen mußte. Eines Tages schaute mich der Lehrer an (er war ein intelligenter Mann), er musterte mich und fragte: "Warum liegen Städte, die großen Städte, meist an Flußufern?" Ich sah die verblüfften Gesichter der Mitschüler, die sich wohl sagten: "Was für ein Glück, daß die Frage nicht mir gestellt wurde!" Ich antwortete: "Aber das ist doch sehr einfach! Weil Flüsse ein natürliches Kommunikationsmittel sind!" (Lachend) Er war auch überrascht!... So war es, alle meine Studien verliefen so, ich vergnügte mich immer – immer war es vergnüglich.

Mein Literaturlehrer war ein alter Bursche, der mit den denkbar konventionellsten Ideen vollgestopft war. Hu, was für ein Langweiler! Alle Studenten saßen also da und mühten sich ab. Er gab uns Aufsatzthemen. Kennst du Le chemin de tout à l'heure et la route de demain 2 ? Ich schrieb dies, als ich zwölf war; es war meine schriftliche Arbeit zu einem Thema, das er der Klasse aufgegeben hatte. Es ging um ein Sprichwort (ich weiß den genauen Wortlaut nicht mehr), und er erwartete... all diese vernünftigen Dinge. – Ich erzählte meine Geschichte, meine kleine Geschichte. Er musterte mich mißtrauisch. (lachend) Er dachte wohl, ich wolle einen Skandal machen... Aber, nein, ich war ein braves Mädchen.

Immer auf diese Art: Mit diesem Etwas, das beobachtet, das all das Lächerliche des Lebens sieht, wo es sich zu ernst nimmt, oh!

Alle diese Dinge tauchten in den letzten Tagen wieder auf, wegen dieser Geschichte.

Ich kann mich nur an einen Vorfall erinnern, den ich wirklich ernst nahm oder vielmehr (lachend) bei dem ich eine ERNSTE MIENE aufsetzte. Es ging um meinen Bruder, der noch recht jung war. Er mag zwölfjährig oder weniger gewesen sein und ich anderthalb Jahre jünger – Kinder eben. Eines Tages verlor mein Bruder die Kontrolle über sich – er war jähzornig, offenherzig und recht frech – und widersprach meinem Vater. Aus welchem Grund, weiß ich nicht mehr. Mein Vater wurde zornig, legte ihn übers Knie und versohlte ihn (mein Vater war ein äußerst starker Mann, ich meine physisch). Mein Vater war wütend, er hatte ihn übers Knie gelegt... (lachend) er hatte ihm die Hose heruntergezogen und verabreichte ihm Prügel. Ich trat ein – es fand im Eßzimmer statt –, ich sah dies, sah meinen Vater, blickte ihn an und dachte mir: "Dieser Mann muß verrückt sein!"... Ich sagte ihm: "Augenblicklich hörst du damit auf, oder ich verlasse das Haus." Ich sagte das todernst – und meinte es auch. Mein Vater... (lachend) war völlig verblüfft.

So tauchten all diese Erinnerungen auf. Ich erinnerte mich, wie intensiv das Bewußtsein schon zugegen war. Aber es war amüsant.

(Schweigen)

Und diese Leichtigkeit: Alles, was ich tun wollte, konnte ich tun. Aber da gab es etwas (jetzt verstehe ich es – damals wußte ich nicht, warum es so war): Alles, was ich tun wollte, konnte ich tun; aber nach einer gewissen Zeit hatte ich die Erfahrung gemacht, und darauf schien die Sache nicht von solcher Bedeutung zu sein, um ihr ein ganzes Leben zu widmen. So ging ich vom einen zum anderen über: Malerei, Musik, Wissenschaften, Literatur... alles, alles, auch praktische Dinge. Alles mit außerordentlicher Leichtigkeit. Nach einer gewissen Zeit ließ ich es dann wieder fallen. Meine Mutter (sie war eine sehr strenge Frau) sagte: "Ich habe eine Tochter, die unfähig ist, eine Sache zu Ende zu führen." Und es blieb so: unfähig, etwas zu Ende zu bringen – immer fing ich etwas an, gab es wieder auf und fing nach einiger Zeit wieder etwas anderes an... "Unstet. Unbeständig. Sie wird es nie zu etwas bringen im Leben!" (Mutter lacht)

Es ist wahr, dies war die kindliche Umsetzung des Bedürfnisses nach immer mehr, immer besser, immer mehr, immer besser... unbegrenzt – der Sinn für Fortschritt, der Fortschritt zur Vollkommenheit. Eine Vollkommenheit, von der ich fühlte, daß sie sich völlig dem menschlichen Denken entzieht – etwas... ein "Etwas"... das undefinierbar ist, aber das man in allem sucht.

All das kam nun zurück, um geordnet, an seinen Platz gestellt und dargebracht zu werden (Geste nach oben), und dann Schluß damit.

 

1 Hier der Text der vierten und letzten Notiz von Mutter: "Natürlich muß der Lehrer den Schüler einer Prüfung unterziehen, um zu wissen, ob er oder sie etwas gelernt und Fortschritte gemacht hat. Aber dieser Beweis muß individuell sein und sich jedem Schüler anpassen. Es ist keine mechanische Prüfung, die für jeden gleich ist. Es muß eine spontane und unerwartete Prüfung sein, die gar keine Vortäuschung und Unaufrichtigkeit zuläßt. Natürlich ist es viel schwieriger für den Lehrer, aber so viel lebendiger und auch viel interessanter. Ich schätze eure Bemerkungen über die Schüler. Es beweist, daß Ihr eine individuelle Beziehung zu ihnen habt; das ist wesentlich für einen guten Unterricht. Die Unaufrichtigen wollen nicht wahrhaftig lernen, sondern gute Punkte oder Komplimente des Lehrers erhalten – sie sind nicht interessant." (25. Juli 1967)

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2 "Der Pfad von später und die Straße von morgen"

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