Mutters
Agenda
achten Band
(Sujata gibt Mutter eine Blume namens "Heilkraft".)
Heilkraft?... In der Zeitschrift Planète las ich die Geschichte eines Mannes, der 1905 geboren wurde und seit fünfunddreißig Jahren die Leute durch Handauflegen heilt. 1 Sein Vater war Italiener, seine Mutter Spanierin, und er wurde in Frankreich geboren: er ist Franzose. Seit fünfunddreißig Jahren legt er die Hände auf; er behandelte fünf Millionen Menschen – fünf Millionen! Davon wurden zwei Drittel geheilt. Unzählige Anklagen wurden gegen ihn erhoben... natürlich von Ärzten: Er habe keinerlei Recht, die Leute zu heilen, weil er kein vereidigter Arzt ist!... Ich erzähle dir den Anfang der Geschichte später (den Anfang zum Schluß!), aber bei einer der Gerichtsverhandlungen erkrankte sein Rechtsanwalt sehr heftig an einer Ischiasnerventzündung, die sein Bein lähmte, verbunden mit einem scharfen Schmerz. Der Richter, der sich für sehr schlau hielt, sagte ihm: "Nun, beginnen Sie damit, ihren Rechtsanwalt zu heilen!" Der Mann erhob sich, legte dem Rechtsanwalt seine Hände auf, und fünf Minuten später war er geheilt: "Oh, aber ich bin geheilt!" (Mutter lacht) Er wurde trotzdem verurteilt. Das ist typisch. Als er ganz klein war, das heißt fünf oder sechs Jahre alt, hatte er seinem Vater, der fischen gegangen war, einen Fisch entwendet, und man fand den Fisch nicht mehr. Zwei Wochen später fanden die Eltern den Fisch bei seinem Spielzeug... absolut trocken und unversehrt. Der Vater wollte es selber sehen: sie hatten ein Becken mit Goldfischen, der Vater nahm zwei Goldfische heraus und gab einen seinem Sohn; er legte den Fisch auf seine Handfläche – und der Fisch begann zu trocknen. Der andere war nach ein paar Stunden verdorben. Man sprach darüber mit Ärzten (sie wohnten in Toulouse), dies war etwas später, als er zwölf oder dreizehn Jahre alt war. Der Arzt hatte im Krankenhaus einen Patienten, dessen Wunde er seit vielen Wochen nicht heilen konnte: sie war schrecklich, eine Eiterwunde. Der Arzt rief den Kleinen, der seine Hände auflegte – vierundzwanzig Stunden später war die Wunde geheilt.
Dieser Mann sagt: "Ich lebe in der Gegenwart Gottes." (Ich sah sein Foto, er hat einen großartigen Kopf.) Er sagt das ganz einfach, und ich glaube, er macht nicht viel Aufhebens – er hat übrigens keine Zeit dazu, denn er steht jeden Tag um 5 Uhr auf und geht erst nach Mitternacht zu Bett. Er beginnt seine Arbeit um halb sechs und arbeitet den ganzen Tag, das bedeutet Leute sehen, Leute sehen, Leute sehen. (Als man mir das vorlas, dachte ich mir: und ich beklage mich!) Bewundernswert. Er hat studiert, aber er ist kein Philosoph, er stellt keine Theorien auf: er scheint einfach mit heilenden Händen geboren zu sein. Wahrscheinlich heilt er Infektionen, indem er sie austrocknet, und so heilt er alle derartigen Krankheiten. Man ließ von ihm Enzephalogramme, Kardiogramme usw. machen (man bereitete dem armen Kerl ein unmögliches Leben). Man stellte fest, daß in dem Moment, wo er seine Hände auflegt, sein Herzrhythmus während einiger Sekunden (oder höchstens zwei, drei Minuten) sich plötzlich von sechzig auf achtzig beschleunigt, um sich dann wieder zu normalisieren. Er erweckt nicht den Anschein, ein großes Aufhebens zu machen, wie der Deutsche, von dem ich dir erzählte, der aufschneidet – nichts dergleichen, sehr einfach, sehr freundlich.
Diese Geschichte gefiel mir.
Ein schöner Kopf. Ein großer, sehr starker Mann, der äußerst wenig ißt. Er schläft nur zwei oder drei Stunden in der Nacht, ohne zu träumen (das verstehe ich!).
Das ist interessant.
Manche Leute kamen nur einmal, und manchmal sorgte er sich. Er fragte, warum diese Person nicht wiedergekommen sei – "Ja, ich wurde geheilt." Eine Anklage nach der anderen, und ein Steuerbeamter wohnte inkognito seinen Behandlungen bei. Er sagte, er habe niemals Geld verlangt, und unter... ich weiß nicht, während er anwesend war, kamen etwas mehr als zweihundert Personen, und davon gaben ihm vielleicht sechzig etwas. So mußte der Steuerbeamte feststellen, daß er sich keiner Übertretung schuldig gemacht hatte.
Trotzdem wurde er verurteilt.
Das ist wirklich hübsch, man darf nicht heilen, wenn man nicht vereidigt ist!...
*
* *
Etwas später
Es geht weiter... Hast du einen Mönch gesehen?
Ja, ich bin ihm auf der Straße begegnet, aber ich habe nicht mit ihm gesprochen.
Heute morgen besucht er Pavitra, und F hat ihn zweimal gesehen. Er macht gerade eine Indienreise und kam hierher. Es scheint ihm sehr gut gefallen zu haben. Hier, so sieht er aus (Mutter zeigt ein Foto). Ist das der gleiche, den du getroffen hast?... Gut. Er schrieb zwei Briefe, einen an mich und einen an den Prior seines Klosters, den er mir auch zum Lesen schickte. Die beiden Briefe zusammen, das ist recht interessant (Mutter reicht Satprem den ersten Brief):
Mutter,
Nachdem ich nur einige Tage im Aurobindo Ashram verbrachte, wo ich nichts anderes als der "Entzückte" aus der Krippe der Provence sein konnte, erlaube ich mir, Sie darum zu bitten, die Zeit, die mir in Indien bleibt, bei Ihnen verbringen zu dürfen, das heißt bis Mitte Dezember... usw.
Bruder A
P.S. Anbei ein Brief an Vater Prior von Bellefontaine, der im Falle einer Zusage abgeschickt wird, und von dem ich Sie informieren möchte.
Ich trug F auf, ihn zu bitten, bis Freitag zu bleiben, so daß ich dir den Brief heute zeigen und dich fragen kann, ob es dir wohl möglich ist, den Mann zu treffen und mit ihm zu sprechen (um zu sehen). Aber wenn es dir lästig ist... F hatte einen guten Eindruck. Hier, lies seinen Brief an den Vater Prior:
Mit Freude erhielt ich Ihre Antwort, und ich schreibe Ihnen erneut... Ich bin im Aurobindo Ashram; ich beabsichtigte, ihn nur kurz zu besuchen, aber etwas hier zieht mich sehr stark an, und ich denke, ich bin genug herumgereist. Ich werde zum Ramakrishna-Mutt in Ootacamund fahren, da ich meinen Besuch angesagt habe, aber ich beabsichtige, so bald wie möglich hierher zurückzukehren. Alles ist wunderbar und erstaunlich hier. Wer hinter die glatte Oberfläche sieht, mag sich fragen, ob der neue Himmel und die neue Erde, von denen Johannes spricht, sich nicht hier treffen.
Zwei Schritte entfernt liegt eine große Kirche, und gestern, am ersten Oktober, sagte der Prediger: "Werdet Bürger der himmlischen Stadt"... Er hätte nicht besser auf mein Fragezeichen zielen können. Am Abend traf ein junger Pariser, der sich ganz frisch wie ein Neugeborener hierher aufgemacht hatte, als ersten den gleichen Priester der großen Kirche, der ihn fragte: "Was suchen Sie hier, hier gibt es nichts." Der Pariser sagte: "Und der Ashram?" Der Priester antwortete: "Der Ashram ist ein Bordell." Wegen dieser beleidigenden Erklärung (und dies war noch das Netteste, was er ihm sagte) – (Mutter lacht) –, richte ich an Mutter die Bitte, die mir in Indien verbleibende Zeit hier verbringen zu dürfen. Ich glaube wirklich, daß Greuel und Verwüstung an dem heiligen Platz herrschen. Wann wird man endlich das Wort Christi anerkennen: "Man erkennt einen Baum an seinen Früchten"? Jai-jai!
Bruder A
Jai-jai bedeutet Sieg-Sieg!
Wenn du also mit ihm sprechen willst...
Ich kann ihn gerne treffen... Oh, die Katholiken hier hassen uns.
Ja. Das sagte ich auch in meiner Erklärung 2, aber sie leugneten es. Sie hatten die Dreistigkeit, mir zu sagen (Katholiken, die mich besuchten): "Warum haben Sie so etwas gesagt? Es ist nicht wahr." Man müßte ihnen diesen Brief unter die Nase halten. Ich WEISS, daß sie mit allen so reden. Eine Art Wut.
Seit langer Zeit dauert das schon an. Es begann, als du mit dem Gouverneur Baron hier warst (vor zwanzig Jahren), erinnerst du dich? Sie schrieben Parolen an die Mauern.
Du könntest ihn treffen. Man sagte mir sogar, daß er dich schon gesehen habe?
Ich sah ihn auf der Straße. Aber ich kann mich nicht auf meine Eindrücke verlassen, denn...
Wie war dein Eindruck? Das interessiert mich.
Ich wage nicht, mich darauf zu verlassen...
Ich auch nicht: Sie beginnen, ungehalten zu sein, und dann...
Ich muß sagen, daß ich nicht sehr begeistert war... Ich fühlte, was man bei fast allen Katholiken fühlt, etwas... wie soll ich sagen, Ausweichendes, nicht sehr Sauberes.
Scheinheilig?
Ja, etwas in der Art, und man fühlt darunter eine große Verdrängung; etwas steckt darunter und ist nicht sehr sauber.
Ich hatte auch diesen Eindruck, als ich das Foto sah.
Man hat den Eindruck von sehr verklemmten Leuten.
Sie sind hypnotisiert von dieser Sexgeschichte.
Ja, das fühlte ich darunter, und darüber ein Blick... der einem nicht in die Augen sehen kann.
So ist es.
Im Grunde ist es eine christliche Atmosphäre der Sünde.
Deshalb wollte ich, daß du ihn triffst, denn natürlich hat F einen sehr guten Eindruck, und Pavitra war voller Beifall, als er den Brief las. Ich war (Geste des sich Zurückziehens) abwartend.
Warum will er kommen?... Natürlich könnte es einfach sein, daß er sehr zufrieden und sehr glücklich ist, das ist in Ordnung. Aber offensichtlich ist er sehr christlich, er beabsichtigt nicht, das zu ändern.
Ich weiß nicht.
Ich wollte dich bitten, ihn zu treffen, wegen dieses... etwas unangenehmen Eindrucks, ich weiß nicht. Ich wollte ihm nicht schreiben: "Ja, Sie können bleiben", wenn es unerfreulich ausgehen sollte. Aber es mag nicht so sein, wenn er bewußt ist – wenn er bewußt ist, kann es anders sein. Viel schlimmer aber ist, daß sie im Namen ihrer Religion ihre Seele verraten. So ist das.
Wenn er sich der Möglichkeit bewußt ist, gut. Denn er wird zumindest auf der Hut sein... Aber ich habe ihn nicht gesehen, nur das Foto, und der erste Kontakt mit dem Foto war: "Vorsicht ..."
Ich nahm auch Abstand. Aber ich schrieb das meinen Vorurteilen zu. Ich bin mißtrauisch, verstehst du, mein ganzes Leben lang habe ich dieses Christentum verabscheut...
Hatte er seine Tracht an?
Nein, er war in Zivil. Aber, wie gesagt, der Eindruck war, daß er darunter spirituell nicht kultiviert ist.
Gut, treffe ihn! Ich möchte nur, daß du mir ja oder nein sagst, nämlich, ob der Eindruck "günstig" oder "ungünstig" ist, etwas Einfaches, ein einziger Satz, und dementsprechend kann ich ihm eine Nachricht zukommen lassen: "Sie können bleiben", oder "Es ist besser, daß Sie nicht bleiben."
Aber am Ende wird er immer mit dem gleichen Problem konfrontiert sein: die Religion im Gegensatz zur Freiheit.
Das ist nur in intellektueller Hinsicht so. Wenn er kein Philosoph ist, wenn er nicht in einer Ideenwelt lebt, hat dies keinerlei Bedeutung. Es ist vielmehr eine Frage der ERFAHRUNG... Es scheint, er erlebte "eine Herabkunft des Ananda" 3, etwas, das er noch nie erfahren hatte; plötzlich geschah es, und er sagte seinem Vorgesetzten: "Ich möchte ganz allein in die Einsamkeit aufs Land gehen", denn er mochte die Riten, die Zeremonien und all das nicht. Das war der Beginn, dann fühlte er das Bedürfnis, nach Indien zu reisen. In Indien war er ein bißchen überall, und schließlich kam er hier an. Er ist erst seit zwei oder drei Jahren im Orden, es ist eine neuere Bekehrung – nicht "Bekehrung" in religiöser Hinsicht sondern im Leben, denn er muß seit seiner Kindheit katholisch gewesen sein, aber er wollte das alltägliche Leben verlassen und Mönch werden, das geschah erst kürzlich.
Aber es ist ein seltsames Kloster, denn Pavitra hatte eine lang andauernde Korrespondenz mit einem Abt, der in dem Kloster war (er hat ein dickes Dossier!), und plötzlich hörte sie auf, ich weiß nicht warum.
Ich habe nicht den Eindruck, daß dieser Mann ein Intellektueller ist, das ist nicht das Problem.
Aber wie können sie von dem Einfluß befreit werden?
Ja, das ist es. Genau das fühlte ich, als ich ihn sah: diese Sache, die über ihm stand. Eine gewisse "Sache", die all diesen Leuten gemeinsam ist.
Allen.
Eine Atmosphäre. Es ist eine Atmosphäre...
Es ist eine kollektive Suggestion, mein Kind, die dermaßen stark ist. So stark! Ich habe dir die Geschichte erzählt: Es gibt Leute, die sich im Wachzustand widersetzen und kämpfen; intellektuell verstehen sie. Aber wenn sie dann halbbewußt sind oder im Schlaf, überkommt es sie einfach so, und sie sind voller Schrecken... So ist es auf der GANZEN Welt, auf der ganzen Welt (überall gibt es Christen). Ich sehe diese Atmosphäre wie eine ungeheure Spinne über der ganzen Erde.
(Schweigen)
Jedenfalls besteht eine offensichtliche Bemühung für eine Annäherung (ich zeigte dir die Erklärung des Papstes). Wenn der Augenblick gekommen wäre, diesen Machteinfluß zu beseitigen, würde der Versuch sich lohnen.
Nur deshalb lasse ich die Tür offen – wir werden sehen. Jahrelang habe ich mich nicht damit beschäftigt, aber seitdem die Kraft auf diese Art wirkt (Geste eines Drucks), sich immer mehr ansammelt (das ist ungeheuer), wird sich all das wohl in einem gegebenen Augenblick ändern... Ist der Augenblick gekommen?
Es ist doch symptomatisch, daß du seit einiger Zeit von allen Seiten Katholiken ankommen siehst.
Ja sicher!
Diese Frau Z, dieser Mönch.
Oh, und andere, die schreiben.
Ja, deshalb: Wenn er bewußt guten Willens ist, das heißt, wenn seine Gebundenheit eine unterbewußte Angelegenheit ist... (ich sagte dir, es ist kein Mann mit einer mentalen Kraft, gegen die er kämpfen muß, so ist es nicht), aber wenn er sehr guten Willens ist, kann man durch ihn etwas ausrichten. Gerade deshalb möchte ich, daß du ihn triffst.
*
* *
(Dann macht sich Mutter an die Übersetzung der "Botschaft", die sie für das Darshan im November austeilen will:)
Hier habe ich einen Text, den ich sehr interessant finde, ich hatte ihn nie zuvor gelesen. Ich habe dir schon davon erzählt:
There is always this critical hostile voice in everybody's nature, questioning, reasoning, denying the experience itself, suggesting doubt of oneself and doubt of the Divine. One has to recognize it as the voice of the Adversary trying to prevent the progress and refuse credence to it altogether.
In der Natur eines jeden gibt es immer diese kritische, feindliche Stimme, die alles in Frage stellt, diskutiert, die Erfahrung selbst leugnet und Zweifel an sich selbst und Gott erweckt. Man muß sie als die Stimme des Gegners erkennen, der versucht, den Fortschritt zu verhindern, und ihr absolut keinen Glauben schenken.
Sri Aurobindo
Das interessierte mich sehr, denn ich bemerkte, daß es im PHYSISCHEN Bewußtsein war, auf eine sehr allgemeine Weise, und daß man ständig, ständig dagegen ankämpfen mußte: in sich selbst, in anderen, überall. Es ist so, wie du sagtest, gerade "darunter". Es scheint mir interessant, dies zu sagen.
*
* *
Etwas später
Hast du mir nichts zu sagen?
Ja, aber es ist nicht wichtig.
Das macht nichts.
Ich habe T gesehen. Sie erzählte mir von dem Dahinscheiden ihrer Mutter und daß du von einer gewissen Erfahrung sprachst, die du mit ihrer Mutter während ihres Komas oder ihrer "Bewußtlosigkeit" hattest.
Ja.
Sie wollte dich bitten zu wiederholen, was du über diese Erfahrungen sagtest.
Weißt du, ich kann nie zweimal das gleiche erzählen. Ich hatte gar nicht die Absicht, ihr all dies zu sagen; ich wollte ihr nur ein, zwei Worte sagen: daß alles gutgeht, und dann kam es, also sprach ich. Wenn es einmal heraus ist, ist es vorbei. Ich weiß nicht einmal mehr, was ich ihr sagte.
Eines weiß ich (ich weiß nicht, ob sie gerade das verstanden hat): vor allem wollte ich, daß sich ihr Fortgang unter möglichst harmonischen Umständen vollziehen würde, mit dem geringstmöglichen Verlust, so daß sie das VOLLKOMMENE Ergebnis ihrer Lebensreise hier bewahren könnte, und daß... Im Grunde, was ich tat (das sagte ich ihr nicht), sobald ich die Nachricht von ihrem Schlaganfall erhielt, tauchte ich sie in ein Bad des Herrn. Ich hielt sie so umfangen (umhüllende Geste). Zunächst wußte ich nur, daß sie sich entweder ziemlich schnell erholen würde, wenn sie geheilt werden sollte, oder falls dies nicht der Fall wäre, dann zum Zeichen, daß der Augenblick ihres Weggehens gekommen war. Aber dann würde sie auf solche Weise gehen, daß der Körper, ihre physische Substanz sozusagen, den vollen Nutzen des physischen Lebens hier bewahren würde, und ihr inneres Wesen würde in den besten Bedingungen sein. Bei allen, die hier sterben, ist das innere Wesen in den besten Bedingungen (aber meistens habe ich nicht die Gelegenheit, das innere Wesen langsam heraustreten zu lassen 4). Ich sah... weißt du, als Sri Aurobindo wegging, bewahrten wir ihn fünf Tage, und ich sah, wie es vor sich ging, ich habe dir das erzählt. Während ich aufrecht neben ihm stand, verließ er seinen Körper und trat in den meinen ein. Es war so materiell, daß eine Reibung entstand – der Körper fühlte die Reibung der eindringenden Kraft – und ich sah (natürlich war es bei ihm völlig anders und in ungeheuerlichem Maßstab, aber für alle ist es so): Damit das Weggehen sich in höchster Harmonie vollziehen kann, muß es nach einem inneren RHYTHMUS geschehen, in der Gegenwart der göttlichen Kraft, die gleichzeitig einen Schutz und eine Hilfe darstellt. Ich tauchte sie dorthinein, und (ich weiß nicht, ob sie es dir sagte) ihr Bruder ist Arzt, er kam und erklärte mit der gewohnten Überheblichkeit: "Oh, morgen vormittag wird sie gegangen sein." Ich sagte nichts, ich blieb ruhig. Natürlich vergingen noch drei Tage mehr. Er selbst mußte eingestehen, daß es da etwas gab, was er nicht verstand.
Was sagte sie dir denn?
Sie sagte mir, daß du eine besondere Erfahrung mit ihrer Mutter hattest, in dem Sinne, daß das Bewußtsein der Zellen, das materielle Bewußtsein der Zellen ihres Körpers zusammen mit dem inneren Wesen austreten konnte und es nicht verloren ging.
Ja, das ist NORMAL...
Genau das ist normal. Es braucht allerdings Zeit. Und es bewirkt, daß der ganze Nutzen, den die Zellen hatten, nicht verlorengeht.
Ja, hier beeilt man sich, die Leute zu verbrennen, das ist schrecklich.
Oh, das weiß ich... Aber sie wurde begraben.
Ach! Ich weiß, ich sah zwei oder drei Fälle hier, wo die Leute bewußt waren – das war schrecklich für sie, furchtbar, furchtbar.
Nehmen wir den Fall von C 5 . Er hatte gelernt, seinen Körper zu verlassen: er ging hinaus und schaute sich um; er sah Dinge, er merkte sie sich, und dann trat er wieder in seinen Körper ein. Bei einer Operation trafen die Ärzte nicht die notwendigen Vorsichtsmaßnahmen, und das Herz konnte dem Schock der Operation nicht standhalten: nach fünf Tagen ging es zu Ende. Er hatte aber die Gewohnheit, seinen Körper zu verlassen, er tat es und kam zu mir (ich wußte es, bevor man mir ankündigte, daß er "tot" war, weil er zu mir gekommen war). Aber er selber wußte nicht, daß er tot war: Er war aus seinem Körper ausgetreten, wie er es gewöhnlich tat, kam zu mir und blieb bei mir. So ging es sehr gut, er blieb ruhig. Dann, zu einem bestimmten Zeitpunkt... (er starb im Krankenhaus, und damals hörte natürlich niemand auf mich: man verbrannte ihn viel zu früh – aber es wäre auf jeden Fall zu früh gewesen für ihn, denn gerade weil er darin geübt war, hätte es vieler Vorkehrungen bedurft, die Zeit in Anspruch genommen hätten; aber alles wurde viel zu schnell erledigt). Als man ihn verbrannte (ich wußte nicht einmal, in welchem Augenblick man ihn verbrannte), kam er plötzlich ganz entsetzt in mein Zimmer... entsetzt, weinend und elend: "Aber ich bin ja tot! Ich wußte nicht, daß ich tot bin, ich bin tot, und sie haben mich verbrannt, sie haben mich verbrannt ..." Oh, es war schrecklich, schrecklich. Ich beruhigte ihn, trug ihm auf, hierzubleiben, sich ruhig zu verhalten, bei mir zu sein, und sagte, daß ich ihm einen anderen Körper suchen würde. Für eine lange, lange Zeit hielt ich ihn bewußt in meiner Nähe. Dann lehrte ich ihn, sich zu reinkarnieren – all dies bis ins Detail ausgeführt. Daher weiß ich...
Dasselbe gilt für N.S. Auch da... Er fiel auf seinen Kopf und brach sich den Schädel (er wurde auf der Straße ohnmächtig, auf diese Weise starb er). Man brachte ihn ins Krankenhaus. Er verließ seinen Körper 6 und kam sofort zu mir (ich wußte es: als man mir vom Unfall berichtete, wußte ich bereits, daß etwas geschehen war, denn er war zu mir gekommen), und ich behielt ihn hier, brachte ihn zur Ruhe, und er war schön ruhig – völlig ruhig. Man hatte mich nicht einmal um Rat gefragt, um zu erfahren, wann man ihn beerdigen sollte, gar nichts (natürlich eine Arztfamilie!). Schlagartig, brrt! (Geste des Berstens) verließ er plötzlich meine Atmosphäre. Dann nichts mehr... Ich brauchte TAGE, um wieder Kontakt mit ihm aufzunehmen – wegen des Schocks, den er erlitten hatte, als man seinen Körper verbrannte. Ich brauchte Tage, um ihn wiederzufinden, ihn zur Ruhe zu bringen, ihn wieder zu sammeln. Ein Teil von ihm war verschwunden; nicht sein ganzes Bewußtsein kam, denn ein Teil des materiellsten Bewußtseins, des materiellen Vitals, muß durch den Schock hinausgeschleudert worden sein. Ich weiß das, denn Alberts Vater 7, der operiert worden war (das geschah mehr als ein Jahr später, vielleicht zwei Jahre), sah sich, als er narkotisiert wurde, plötzlich N.S. gegenüber (selbst ein Teil kann die Erscheinung des ganzen Wesens annehmen, Sri Aurobindo erklärt das, es ist wie eine Fotografie). Er sah ihn, und N.S. fragte nach Neuigkeiten von seiner Familie, seiner Frau, seinen Kindern, und er sagte ihm: "Ich kümmere mich um ihr Ergehen." Der Teil, der an seiner Familie hing, muß sich vom Rest seines Wesens abgetrennt haben: Als er zu mir kam, war er vollständig, aber nachher, ich weiß nicht, was geschah, nicht wahr (Geste des Berstens unter dem Schock). Es war so konkret, daß Alberts Vater, als man ihn aufweckte, mit lauter Stimme sagte: "Warum unterbrechen Sie meine Unterhaltung mit N.S.?" Daher wußte man es. Er sagte: "Aber ich sprach doch gerade mit N.S., warum unterbrechen Sie meine Unterhaltung?" So erfuhr man, was geschehen war.
Voilà.
(Sujata ergreift das Wort:) Liebe Mutter, auch ich habe N.S. gesehen.
Wann?
Es war in dem Jahr, als er starb, aber viele Monate später, etwas weniger als ein Jahr später: acht oder neun Monate danach. Ich sah ihn, er kam zu mir (es war in der Nacht, im Traum), er stand vor der Tür, ich ging, ihn zu sehen 8 . Aber jemand, der bei mir war, sagte: "Aber er ist tot!" Da bekam er einen solchen Schock, der arme Mann, und er litt. So nahm ich ihn mit, legte ihn auf mein Bett, und ich schickte V, die anwesend war, um dich davon in Kenntnis zu setzen.
All das im Traum?
All das im Traum. Ich beruhigte ihn, und dann sagte ich V, sie solle zu dir gehen.
Aber diese Teilung, dieser abgetrennte Teil entstand, als man ihn verbrannte. Vorher bewahrte ich ihn vollständig, und ich hätte ihn ins Psychische übergehen lassen, wie ich das bei allen tue, ruhig, ohne Verletzungen, ohne Schwierigkeiten. Aber brrt! (die gleiche Geste des Zerplatzens). Weißt du, das ist ein schrecklicher Schock. Man entfacht das Feuer zuerst im Mund... Das ist... oh, das Verhalten der Menschen zueinander – ich sah all dies, ich sah es... Es ist schrecklich, einfach schrecklich!
Wenn ich daran denke... Es geschieht nicht einmal oder zweimal, sondern Hunderte von Malen, daß Leute, wenn sie jemanden, den sie liebten (ihren Vater oder ihren Bruder oder ihre Mutter), nach deren Tod im Traum oder in einer Vision sehen, schreckliche Angst haben und sie fortjagen... Warum?... Wenn ich sie nach dem Grund frage, können sie es mir nicht einmal sagen, weil dies bei ihnen eine so spontane Reaktion ist. Sie können es nicht, sie sind erstaunt, daß ich sie frage, so natürlich erscheint es ihnen.
Genau das sagte ich T (ich glaube, sie hat es nicht verstanden): Es besteht kein so großer Unterschied zwischen dem, was die Leute "Leben" und "Tod" nennen; der Unterschied ist sehr klein, und wenn man dem Problem auf den Grund geht, alle Details untersucht, verringert sich der Unterschied noch weiter. Man zieht stets eine scharfe Trennlinie zwischen den beiden – das ist völlig idiotisch: es gibt Lebende, die schon halb tot sind, und es gibt VIELE Tote, die SEHR lebendig sind.
1 Es handelt sich um d'Alalouf. Siehe Planète Nr. 35, Juli-August 1967.
2 Am Morgen nach den Ereignissen des 11. Februars 1965, in deren Verlauf der Ashram angegriffen, mehrere Schüler verwundet und einige Gebäude niedergebrannt worden waren, hatte Mutter eine Erklärung abgegeben, in der sie verschiedene Elemente hervorhob, die für diesen Haßausbruch verantwortlich waren, und unter den Hauptverantwortlichen nannte sie die Katholiken Pondicherrys: "... vor allem die militanten Katholiken, denn trotz der Erklärung des Papstes nach seinem Indienbesuch sind sie überzeugt, daß jeder, der nicht katholisch ist, ein Instrument des Teufels ist..."
3 In Frankreich.
4 Weil man sich beeilt, den Körper zu verbrennen.
5 Ein Ingenieur des Ashrams. Mutter sprach von diesem Fall in der Agenda Bd. 1 vom 28. Mai 1960.
6 Er verließ seinen Körper, Mutter erzählte von dieser Erfahrung in der Agenda Bd. 3 vom 4. Juli 1962.
7 Albert: der freundliche Schneider des Ashrams.
8 Sujata präzisierte: "Er war sehr groß, so groß wie die Tür. Er fragte nach Neuigkeiten von seiner Frau."