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Mutters

Agenda

zehnten Band

4. Januar 1969

(Mutter gibt Satprem Rosen und bewundert dann den Duft eines Straußes kleiner gelber Blumen 1 in ihrer Nähe.)

Wie gut die duften!

Die Blumen geben mir eine große Freude. Diese hier und die "Neue Geburt" sind zwei Düfte, oh, die wirken so reinigend... (Auf das kleine Bouquet deutend) Das ist die "einfache Aufrichtigkeit". Weißt du eine Aufrichtigkeit, die kein Aufhebens macht...

Nun, was hast du mitgebracht?

Nichts, liebe Mutter.

Nichts...

Am 1. geschah etwas wirklich Seltsames. Ich war nicht die einzige, die es spürte, mehrere Leute merkten es. Es geschah kurz nach Mitternacht, aber ich fühlte es um zwei Uhr, und andere Leute spürten es um vier Uhr morgens... Letztes Mal erwähnte ich es dir gegenüber kurz. Erstaunlicherweise entsprach es absolut nicht meinen Erwartungen (ich erwartete nichts), und es glich keinem der Dinge, die ich sonst gefühlt hatte. Es war etwas sehr Materielles, d.h. sehr äußerlich – und leuchtend, von einem goldenen Licht. Es war sehr stark und mächtig, aber sein Wesen entsprach einem lächelnden Wohlwollen, einer friedlichen Freude, einem Erblühen in der Freude und dem Licht. Es kam wie ein "Gutes Neues Jahr", wie ein Wunsch. Das überraschte mich.

Es hielt mindestens drei Stunden an, ich fühlte es. Nachher kümmerte ich mich nicht mehr darum, ich weiß nicht, was passierte. Aber ich sprach kurz mit dir und zwei oder drei anderen Leuten darüber: sie hatten es alle gespürt. Das heißt, es war SEHR materiell. Alle hatten eine Art Freude empfunden – eine liebenswerte, mächtige Freude und... oh, überaus süß, lächelnd und wohlwollend... etwas... Ich weiß nicht was – eine Art Wohlwollen. Folglich war es etwas dem Menschlichen sehr Nahes. So konkret! Als hätte es einen Geschmack, so konkret war es. Nachher beschäftigte ich mich nicht mehr damit, außer daß ich mit zwei oder drei Leuten darüber sprach: alle hatten es gespürt. Ich weiß nicht, ob es sich jetzt vermischt hat oder ob... Es ist nicht verschwunden, man hat nicht den Eindruck von etwas, das kommt und wieder fortgeht.

Es war viel äußerlicher als die Dinge, die ich sonst spüre. Kaum mental, d.h. es vermittelte nicht den Eindruck eines "Versprechens" oder... Eher war es... ich selbst hatte den Eindruck einer ungeheuren, unermeßlichen Persönlichkeit – für sie war die Erde winzig klein (Geste, einen kleinen Gegenstand wie eine Kugel in der Hand zu halten), eine riesige, überaus wohlwollende Persönlichkeit, die kommt, um zu... (Mutter scheint vorsichtig diese kleine Kugel in ihrer Handfläche hochzuheben). Der Eindruck eines persönlichen Gottes (und dennoch war es... ich weiß nicht), der kommt, um zu helfen. So mächtig und zugleich so sanft und so verständnisvoll.

Es war sehr äußerlich: der Körper fühlte es überall, überall (Mutter berührt ihr Gesicht und ihre Hände).

Was ist daraus geworden? Ich weiß es nicht.

Es war gerade Neujahr. Als käme jemand von den Ausmaßen eines Gottes (d.h. jemand), um ein "Gutes Neues Jahr" zu wünschen, mit der ganzen Macht, es tatsächlich ein gutes Jahr werden zu lassen.

Aber was war das?...

So konkret...

Ich weiß es nicht.

War es womöglich die supramentale Persönlichkeit? Denn es hatte keine Form, ich sah keine Form, man spürte nur das, was es brachte (Mutter erfühlt die Atmosphäre) – die Wahrnehmung und das Empfinden. Daher fragte ich mich, ob es nicht die supramentale Persönlichkeit war, die sich später in materiellen Formen manifestieren wird.

Seit dem Augenblick fühlt sich der Körper viel froher und weniger konzentriert (das durchdrang ihn überall), er fühlt sich lebendiger, in einer glücklichen Ausdehnung begriffen... heiter. Zum Beispiel fällt es ihm leichter zu sprechen, und er hat gleichsam einen wohlwollenden Tonfall, ein wohlwollendes Lächeln, und all das gepaart mit einer GROSSEN KRAFT... Ich weiß nicht.

Hast du nichts gespürt?

Ich empfand ein Gefühl von Zufriedenheit an dem Tag.

Ja, das ist es.

Handelt es sich um die supramentale Persönlichkeit, die sich in allen, die einen supramentalen Körper haben, verkörpern wird...?

Es war leuchtend, heiter und so wohlwollend AUFGRUND SEINER KRAFT; denn im Menschen ist Wohlwollen meist etwas schwächlich, in dem Sinne, daß es keinen Kampf und Streit haben möchte. Aber so ist es hier ganz und gar nicht. Ein Wohlwollen, das sich durchsetzt (Mutter pocht mit den Fäusten auf die Armlehnen).

Das interessierte mich, denn es war ganz neu. Und so konkret! (Mutter berührt die Armlehne) So konkret wie das, was das physische Bewußtsein gewöhnlich "die anderen" nennt. Das heißt, es kam nicht durch eine innere Wesensebene, durch das Psychische, sondern DIREKT in den Körper.

Was ist es?... Ja, das ist es vielleicht... Seitdem es gekommen ist, verspürt der Körper eine Art Gewißheit, als bestünde jetzt keinerlei Besorgnis oder Unsicherheit mehr: "Wie wird es sein? Wie wird dieses Supramental PHYSISCH sein? Was wird es physisch sein?" Früher fragte sich der Körper das. Jetzt denkt er nicht mehr daran, er ist glücklich.

Gut.

Wird dies in die Körper, die bereit sind, eingehen?

Ja... Ich glaube, ja. Mir scheint, daß diese Formation in die Körper eindringen und sich durch sie ausdrücken wird... in den zukünftigen supramentalen Körpern.

Oder vielleicht handelt es sich um den Übermenschen? Ich weiß es nicht. Das Übergangsstadium zwischen beiden. Vielleicht eher der Übermensch: es war sehr menschlich, aber ein Menschenwesen mit göttlichen Ausmaßen.

Ein Mensch ohne Schwächen und ohne Schatten: rein leuchtend und froh und... zugleich sanft.

Ja, vielleicht also der Übermensch.

(Schweigen)

Ich weiß nicht warum, aber seit einiger Zeit kommt mir immer wieder der Gedanke: Wenn die supramentale Kraft in die irdische Atmosphäre getreten ist und sie durchdrungen hat, werden die Leute, die nicht wissen, wie die Dinge wirklich abgelaufen sind, sich sagen: "Aber ja, WIR haben all das vollbracht!"

(Mutter lacht) Ja, wahrscheinlich!

Wir selbst, unsere schöne Menschheit ist hier aufgeblüht. 2

Ja, sicherlich. So ist es immer.

Deshalb sage ich auch, daß wir hier zwar allen Schwierigkeiten standhalten müssen, daß dies aber eine Gnade ist; WIR werden also wissen, wie es kam – und wir werden natürlich weiterbestehen.

Wir werden wissen, wie es zustandekam.

(Schweigen)

Ach, ich wollte dir etwas zeigen...

(Mutter holt ein Foto, das ihren
beleuchteten Wohnbereich bei Nacht zeigt)

Sieh, wie hübsch!

Wenn du dort auf deinem Balkon stehst, hat man ganz den Eindruck eines großen Schiffes, und du bist auf dem Kommandostand und steuerst das Schiff.

*
*   *

(Etwas später kommt Mutter auf die Hundertjahrfeier von Sri Aurobindo 1972 zu sprechen.)

Man plant die Veröffentlichung des Gesamtwerks von Sri Aurobindo in Hindi, Bengali, Gujarati und zwei anderen Sprachen, ich weiß nicht mehr welche. Später wollen sie noch Tamil oder Telugu hinzufügen. Eine gewaltige Arbeit.

Gleichzeitig gibt es in Amerika zwei oder drei Ausgaben des Gesamtwerks von Sri Aurobindo: eine für Bibliotheken, eine für die Amerikaner und eine für Inder. Sie schickten mir Probeexemplare – sie sind großartig! Die Ausgabe für die Amerikaner ist eine Pracht: so groß, auf schönem Papier...

Schade, daß man es nicht auf französisch herausgibt.

Ja, in Frankreich gibt es kaum eine Antwort.

Jemand müßte sich darum kümmern. Ich kümmere mich überhaupt nicht darum; wir brauchen jemanden. Aber ist es denn... Vielleicht ist es nicht notwendig?

Ich bemühe mich sehr darum, daß Sri Aurobindo in Frankreich veröffentlicht wird...

Ja, aber die Leute antworten dir, daß sie es nicht können 3 .

Eine Möglichkeit bleibt noch offen, die letzte, die ich dir vorlas 4 .

Ja...

Darauf warte ich noch. Vielleicht wird es dort seinen Anfang nehmen?

Es wäre gut, alles zu veröffentlichen. Sein hundertster Geburtstag ist 1972, uns trennten nur sechs Jahre.

Bei Gandhi war der Unterschied größer – ist jetzt nicht auch Gandhis Hundertjahrfeier?

Sie ist dieses Jahr.

Dieses Jahr...

Da besteht tatsächlich ein "Unterschied"...

(Schweigen)

Unter dem Vorwand, mich nicht zu ermüden oder ich weiß nicht was (ich verstehe es nicht), nimmt man mir jetzt die Sachen weg, man läßt sie mich nicht behalten (Mutter lacht). Ich wollte dir diese sehr schöne amerikanische Ausgabe zeigen, und nun weiß ich nicht, wo sie ist.

Mir würde viel daran liegen, daß man in Frankreich etwas unternimmt...

Ja, das wäre gut... es wäre gut für die Franzosen!

Dein Buch hatte schon eine enorme Wirkung, und es hält an.

Ich erinnere mich, sogar hier, als Pavitra es las, war er ganz begeistert und sagte mir: "Oh, er half mir, etwas zu verstehen, das ich vorher nicht verstanden hatte!" (Mutter lacht) Pavitra, einer der alten, die noch mit Sri Aurobindo lebten.

Nein, in Frankreich nahmen die Übersetzungen einen schlechten Anfang wegen H...

Mit seinem Ehrgeiz und...

Das hat etwas verfälscht.

Ja. Das hat den Ansatz in Frankreich verfälscht.

*
*   *

(Gegen Ende des Gesprächs kommt die Rede auf die bevorstehende Ankunft von Satprems Mutter.)

Wann kommt deine Mutter an?

Nächsten Samstag.

Samstag... Dann ändern wir das Datum unseres Gesprächs. Bring mir doch bitte das Heft...

Stört dich das nicht? Schafft es nicht Komplikationen?

Nein, Komplikationen entstehen nur, wenn man es will!

Ist es dein Bruder oder ein anderer Bruder, der ein Kind haben wird?

Nein, eine Schwester.

Ach, du hast eine Schwester...

Sogar fünf!

Was! Fünf Schwestern... huch! und drei Brüder... Oh, deine Mutter... meine Güte!

Ja.

Was für ein Mut!

Dann hast du sicher zahllose Neffen und Nichten.

Oh, ja, überall. Ich kümmere mich aber wenig darum.

Ach, sieh an! Das wußte ich nicht.

Ich habe immer außerhalb der Familie gelebt.

So ist das auch bei mir und meiner Familie... Letzte Woche erhielt ich einen Brief von einer Person (ich weiß ihren Namen nicht mehr), die mich mit "Liebe Tante" anredete. (Mutter lacht) Aber die Kinder meines Bruders (Mattéo) kenne ich nicht, und deren Kinder noch weniger. Ich habe auch eine große Familie... Diese hier (die Mutter gerade geschrieben hatte) ist die Tochter einer Schwester meiner Großmutter (sie hat offenbar das "Bulletin" abonniert); sie schreibt mir, daß ich ihr "seit Jahren geholfen habe", sie drückt ihre Dankbarkeit aus und sagt, sie träume davon, nach Indien zu kommen...

Eine der Töchter meines Bruders (glaube ich) 5, hat einen Japaner geheiratet, und sie kam mit ihrem Mann hierher – ich habe ihn gesehen. Sie haben eine ganze Schar Kinder! Aber den Sohn meines Bruders und die andere Tochter kenne ich nicht.

Nein, ich habe keinen Familiensinn.

Ich auch nicht.

Mit meinem Bruder bestand während unserer ganzen Kindheit eine sehr enge Verbindung, bis er mit achtzehn ins Polytechnikum eintrat, und er hat NICHTS verstanden. Er war ein intelligenter, fähiger Mann: er war Gouverneur in mehreren Ländern und dabei recht erfolgreich. Verstand aber NICHTS... Er war mit Jules Romains befreundet, und dieser sagte ihm, er wolle unbedingt hierher kommen, könne es aber nicht. Jules Romains verstand also besser als mein Bruder.

Es war seltsam, er war... sechzehn, glaube ich, oder siebzehn... Hab ich dir erzählt, was ihm geschah?

Ja, eine Stimme sagte ihm...

Ja, sie fragte ihn: "Willst du göttlich sein?"... Er lehnte ab 6 .

Er lehnte ab?

Ja, ganz erstaunlich.

Aus Furcht oder aus Skeptizismus?

Nein: Enge des Bewußtseins. Er konnte sich nichts Besseres vorstellen, als "den Menschen zu helfen": Philanthropie. Aus dem Grunde wurde er Gouverneur. Nachdem er das Polytechnikum absolviert hatte, gab man ihm die Wahl zwischen verschiedenen Stellungen, und er wählte mit Absicht einen Posten in den Kolonien, denn er wollte "den unterentwickelten Völkern helfen, Fortschritte zu machen" – all dieser Unsinn!

Doch er hat zumindest ein Gutes in seinem Leben zustandegebracht: Er war im Kolonialministerium, und ein etwas älterer Freund von ihm war dort Minister (ich weiß nicht, welchen Posten mein Bruder innehatte, aber alle Akten gingen über seinen Tisch). Als der Krieg ausbrach (während ich hier war: der Erste Weltkrieg), verlangte die englische Regierung, daß die Franzosen Sri Aurobindo ausweisen und nach Algerien schicken sollten – sie wollten nicht, daß Sri Aurobindo in Pondicherry sei, sie hatten Angst. Wir erfuhren davon (Sri Aurobindo erfuhr es), und so schrieb ich meinem Bruder: "Das darf nicht geschehen!" Der Antrag war zur Ratifizierung zum Kolonialminister gelangt, und mein Bruder bekam das Schriftstück in die Hände – er legte es zuunterst in seine Schublade.

So geriet es vollkommen in Vergessenheit, und dann sprach man nicht mehr darüber.

Er hat sich also rehabilitiert.

Das läßt das übrige vergessen...

 

1 Hymenantherum: gelbe Gänseblümchen.

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2 Satprem dachte sich damals auch, daß vermutlich etwas Ähnliches – eine ähnliche Herabkunft – zur Zeit der Menschenaffen passierte und die Menschen ihre mentalen Errungenschaften für das natürliche Ergebnis ihrer eigenen Anstrengungen hielten.

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3 Drei der besten Herausgeber, die angesprochen wurden, lehnten ab oder antworteten nicht.

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4 Eine Sammlung von "spirituellen Abenteuern", wo Sri Aurobindo vielleicht einen Platz unter Schilderungen von Drogenexperimenten und Psychedelikern gefunden hätte.

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5 Tatsächlich handelte es sich um eine Enkelin Mattéos.

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6 Siehe Agenda Bd. 2, 5. August 1961.

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