SITE OF SRI AUROBINDO'S & MOTHER'S  YOGA
      
Home Page | 10 Bande

Mutters

Agenda

zehnten Band

9. April 1969

Wie geht es dir?

Oh, es geht viel besser. Ja, seit dem letzten Mal habe ich das Gefühl, es geht besser.

Gut.

Ich glaube, dies war die Ursache für meine Beschwerden seit einem Jahr [die okkulten Machenschaften im Vatikan], denn diese Kopf- und Augenschmerzen kamen immer nachts.

Nachts... widerlich!

Mir scheint, ich könnte jetzt wieder anfangen zu arbeiten, oder nicht?

Das eilt nicht.

Hast du Neuigkeiten?

Ich wollte eine Frage mit dir besprechen. Es handelt sich um die Veröffentlichung von Sri Aurobindos Werken in Frankreich. Du weißt, daß wir ihnen Die Synthese des Yoga und den Zyklus der menschlichen Entwicklung geschickt hatten 1 . Die Reaktion der Frau, die sich dort um die Veröffentlichungen kümmert, ist nicht positiv. Die Übersetzung stellt sie nicht in Frage (sie findet sie gut) sondern Sri Aurobindo und den Text selbst... Sie gibt recht arrogante Urteile über Sri Aurobindo ab, während sie nichts versteht, aber alles ganz schnell eintaxiert. Eine Art Arroganz...

Was hat sie gelesen?

"Die Synthese des Yoga".

Ach! (Mutter lacht)

Sie ist eine Zen-Anhängerin, und sie schreibt, daß der Zen in einem Satz sagt, was Sri Aurobindo in Millionen Worten ausdrückt. Sie erklärt, man könne "Sri Aurobindo auf ein Zehntel reduzieren, ohne etwas von der Substanz wegzunehmen". Du siehst die Arroganz 2 .

Das bedeutet, daß sie nichts versteht.

Ja, sie begreift nichts, aber sie hat wohlgemerkt alles verstanden.

Hast du den Brief kürzlich erhalten?

Vor zwei Tagen.

Hast du schon geantwortet?

Nein.

Antworte nicht!

Ich wollte ihr antworten... Weißt du, was für ein Gedanke mir kam? Es ist doch gar nicht nötig, bei all diesen Leuten betteln zu gehen und ihnen klarzumachen, wie bedeutend Sri Aurobindo ist: Wir veröffentlichen das hier selber.

Ja, genau! Das scheint mir auch so.

Diese Intellektuellen ekeln mich an.

(Mutter lacht) Oh, ja!

Seit zwei Tagen bin ich in einem Zustand der Empörung – nicht Empörung sondern Entrüstung. Ich hätte Lust, diesen Leuten eine Tracht Prügel zu verpassen.

(Mutter lacht) Sie sind Idioten.

Aber ich wollte sagen, wir brauchen ihnen nicht einmal zu schreiben, um die Manuskripte zurückzufordern.

Meine Idee war: Fallenlassen (mit einer inneren Handlung) und nichts mehr sagen. Das wird auf natürliche Art wirken: in ein, zwei Jahren wird jemand verstehen... man weiß es nicht. Damit eine Kraft in das Manuskript legen, die bewirkt, daß es in Beziehung zu jemandem gelangt, der es verstehen und sich plötzlich sagen wird: "Ach, aber wir haben das ja, und wir haben es nicht verwendet." In ein, zwei Jahren... 3 Verstehst du: Der Person, die den Brief geschrieben hat, die Türe verschließen, so daß sie vor einer verschlossenen Tür steht – das ist alles, nichts weiter –, und die Kraft auf das Manuskript richten, damit es eines Tages jemandem in die Hände fällt, der verstehen wird.

Diese Intellektuellen sind schrecklich.

Ach, sie sind dumm!

Der Intellekt ist eine Festung. Eine solche Selbstgefälligkeit...

(Mutter lacht) Sie sind dumm.

Das ist auch deutlich sichtbar in der Atmosphäre: sobald sich die Leute für sehr intelligent halten, ist es ZU ENDE, sie schneiden sich völlig vom wahren Licht ab. So ist es. Sie werden self-sufficient (selbstzufrieden)... (Mutter lacht)

Das macht nichts, es ist besser so: wir veröffentlichen das Buch hier.

Soll ich das Manuskript zurückfordern?

Laß es. Eines Tages... eines Tages wird es jemandem in die Hände fallen, der verstehen wird 4 .

*
*   *

Etwas später

In Kanada gibt es jetzt eine ganze Bewegung. Sie haben mich gerade um eine Botschaft für eine kanadische Gruppe gebeten (Mutter sucht nach einer Notiz).

Auch in Auroville sage ich ihnen ständig zwei Dinge (Mutter deutet eine hämmernde Bewegung an): "Für die, die frei sein wollen, gibt es nur eine Freiheit, und zwar, mit dem Höchsten vereint zu sein; und um sich mit dem Höchsten zu vereinen, muß man frei von Begierden sein." Sie reagieren so (Mutter läßt ihren Mund offenstehen). Sehr amüsant!

Hier sage ich das Gleiche:

(Satprem liest)

"Ein neues Bewußtsein ist am Werk auf Erden, um das Kommen des supramentalen Wesens vorzubereiten.

Wenn du danach strebst, dem göttlichen Werk zu dienen, dann öffne dich diesem Bewußtsein 5 .

Die wesentliche Voraussetzung, um mit diesem neuen Bewußtsein in Kontakt zu treten, ist, keine Begierden mehr zu haben und völlig aufrichtig zu sein."

Das muß man ihnen unentwegt wiederholen (die gleiche hämmernde Bewegung). Ich werde ständig dazu gedrängt, ihnen das zu wiederholen.

Die ganze Zeit geschehen recht amüsante kleine Zwischenfälle, bei denen dieses Bewußtsein zeigt, warum die Begierden... es hat wirklich den Eindruck, daß sie Dummheiten sind, und es zeigt den Grund auf. Zum Beispiel zeigt es dem Körper all diese kleinen Begierden, die er hat, und wie sie die Kraft davon abhalten zu wirken. Das ist sehr interessant. Der Körper beginnt zu verstehen. Er beginnt, auf extrem genaue und klare Weise zu spüren, daß er, SOBALD er seiner selbst gewahr wird, in ein Loch fällt – sobald er das Gefühl seiner selbst und des Übrigen in Beziehung zu sich selbst hat. Sobald er hingegen gewahr wird, daß die Kraft wirkt – die Kraft, das Bewußtsein, das wirkt –, dann kommt dem hier (Mutter berührt die Haut ihrer Hand) nur noch eine völlig zweitrangige Realität zu... wie ein Instrument, das man für einen bestimmten Zweck benutzt, genauso, jedoch mit dem ungeheuren Vorteil, nicht abgetrennt sein zu müssen und sich wie eine Art Verdichtung dieses Bewußtseins zu fühlen. Der Körper lernt sehr gut, und er kann das in ganz kleinen Details sehen, ständig: sobald er sich als "etwas" fühlt und die Kraft als "etwas anderes", verspürt er einen Schmerz hier, einen Schmerz da, dieses läuft schief, jenes geht fehl... Eine Welt... eine komplexe und total häßliche Welt. Macht er stattdessen eine Bewegung... (wie soll ich sagen?) das Gegenteil einer Verdichtung: wie eine Erweiterung, eine Ausdehnung im Bewußtsein – so verwischen sich die Grenzen, sie verlöschen, alles wird geschmeidig, und die Schmerzen verschwinden... PHYSISCH.

Diese Erfahrung erlebt er Tag für Tag, mal an der einen Stelle, mal an einer anderen, mal die eine Sache, dann eine andere, und er geht durch all das hindurch. Weißt du, das ist... absolut wunderbar.

Die ganze alte Gewohnheit muß einfach überwunden werden. Sobald irgendwo etwas nachgibt, fällt die ganze alte Gewohnheit wieder über einen her; so wie ein Gummiband: sobald man es losläßt, beginnt alles aufs neue; dann hat man Schmerzen, man hat... Sobald er sich jedoch mit dieser neuen Schwingung identifiziert, wird es wie ein leuchtender Ausdruck... des Bewußtseins; dann ist alles smooth (ich weiß nicht, wie ich das ausdrücken soll), ohne Stöße, ohne Schwierigkeiten. Läßt man sich auf diese Weise gehen, wird es ein Wunder. Es wird ein Wunder. Leider bleibt noch der ganze Einfluß der äußeren Welt, wodurch es ihm schwer fällt, STÄNDIG so zu sein, und die Gefahr bleibt, in die gewohnte Weise zurückzufallen. Aus diesem Grund kann es sich noch nicht auf dauerhafte Weise festigen.

Der Körper wird bewußt, als gäbe ihm eine Vision der Wahrheit jetzt die Fähigkeit, die ganze vorherige Lüge zu sehen. Alles, was er tat, selbst wenn das innere Wesen wußte und sich das Bewußtsein erhellte und er einen allgemeinen guten Willen hatte... alle diese Dummheiten stammten vom Gefühl einer abgetrennten Persönlichkeit. All dies wird klar, sehr klar, und damit beginnt die Schau. In diesem Zustand der klaren Schau wird alles einfach wunderbar – aber es kann nicht bestehenbleiben, vor allem wegen des ständigen Kontakts... (Geste in Mutters Umgebung). Aber auch ohne äußere Kontakte (zum Beispiel nachts) kann er zwar ein, zwei Stunden in diesem Zustand verharren, aber dann, ohne daß man weiß, was geschieht: ach! fällt er plötzlich in die alte Weise zurück... Dann tut es hier weh und dort weh, man fühlt sich unwohl, oh... abscheulich. Wenn man einfach wieder aufsteigt und alle diese Trennungen verschwinden, wird es so klar, so transparent und so einfach! So einfach...

Das Leben könnte so wunderbar einfach und schön sein... Der Mensch hat es wirklich unsinnig gemacht.

Ich verstehe sehr wohl, daß dies nötig war, um die Materie durchzukneten, aber... der Augenblick ist gekommen, das zu beenden, dort herauszukommen.

Dabei entsteht der Eindruck, daß die sichtbare Form mindestens ebensosehr das Resultat davon ist, wie man von den anderen gesehen wird, als wie man selbst ist... Ich kann das nicht erklären, aber es gibt eine bestimmte Seinsweise, die durch das wahre Bewußtsein zustandekommt und die auf völlig konkrete Weise gefühlt wird, die... nicht direkt im Widerspruch steht, aber völlig verschieden ist von der Art, wie man sich selbst sieht, wenn man sich so betrachtet, wie die anderen einen sehen... Die Augen beginnen auf zweierlei Arten zu sehen. Die alte Weise wird halb verschleiert durch die neue Art, und wenn jemand anders einen ansieht, sieht man sich so, wie die anderen einen sehen... Das ist schwer zu erklären.

Deshalb muß etwas gefunden werden, damit er unabhängig vom Einfluß der Umwelt wird.

Zum Beispiel ist der Körper nachts größer, und er ist aktiv. Er führt Dinge aus... Der subtile Körper tut Dinge und ist aktiv und hat eine Existenz, deren er sich völlig bewußt ist, und er ist anders als dies (Mutter berührt die Haut ihrer Hände), dennoch ist es ein Körper, der im Subtilphysischen PHYSISCH existiert, und er besteht schon auf eine dauerhafte Weise, in dem Sinne, daß man so BLEIBT, man trifft die Dinge wieder genauso an, wie man sie verlassen hat – sie bestehen auf dauerhafte Weise, sind aber nicht sichtbar für die gewöhnliche Sicht, sie haben jedoch eine logische und dauerhafte Existenz. Dort ist die Form eben ein wahrer Ausdruck des Bewußtseinszustandes, während sie hier das Resultat von... (Mutter lacht) man könnte sagen der ganzen im Bewußtsein ausgebreiteten Lüge ist.

Die Leute, die mich nachts sehen (diejenigen, die eine Sicht der subtilen Welt haben), sehen mich nicht so (Mutter deutet auf ihren Körper): sie sehen mich, wie ich bin, und sie erzählen es mir: "Ja, Sie sind so und so ..."

Was braucht es, damit das eine das andere ersetzt?

Dieses Bewußtsein weiß auf wunderbare Weise zu erklären – nicht mit Worten, sondern indem es einen beide Erfahrungen nebeneinander erleben läßt. Zum Beispiel meinen viele Leute, sie könnten den Unterschied zwischen einer spirituellen Bemühung und einer Begierde nicht erkennen; es fällt ihnen schwer, dies in ihren Gefühlen auseinanderzuhalten. Dieses Bewußtsein erklärt dies, es gibt einem die Erfahrung des einen und des anderen und zeigt einem so den Unterschied – mit einer wunderbaren Genauigkeit. Jetzt erkennt der Körper vollkommen exakt den Unterschied zwischen der Aspiration, der Bemühung – einer Schwingung, die einem hilft, etwas zu werden oder eine Sache zu erreichen – und dann dem Begehren, und dieser Unterschied ist gewaltig. Jetzt weiß der Körper. Er weiß. Er bekam eine Demonstration in allen Details in bezug auf die Ernährung... Seit sehr langer Zeit steht der Körper der Ernährung völlig gleichgültig gegenüber (das ist wahrscheinlich der Grund), aber es wurde ihm mit einer Sache gezeigt, das Verhältnis zu dieser Sache: Man zeigte ihm, wie das Verlangen aussieht, und wie die Harmonie aussieht, durch welche die Sache wohltuend wirkt. Und damit er gründlich verstehe, wurde ihm auch gezeigt, in welchem Sinne die völlige Indifferenz auch nicht gut ist – weder das Verlangen noch eine völlige Indifferenz, weder das eine noch das andere, sondern (Mutter scheint eine winzige Schwingung mit der Fingerspitze zu verfolgen): auf eine bestimmte Weise, mit einer gewissen Schwingung, wirkt die aufgenommene Nahrung neutral, d.h. sie kann einem nicht schaden. Mit einer bestimmten anderen Schwingung aufgenommen, wirkt dieselbe Sache wohltuend. Und schließlich die Demonstration, wie schädlich die Schwingungen der Begierde wirken – all dies im Detail. Winzig kleine Dinge, aber so klar, so präzise!... während man gerade ißt, deshalb wird es so konkret.

Dieses Bewußtsein ist ein Mentor. Es weiß, mein Kind. Es weiß eine Fülle von Dingen, die die Menschen nicht wissen.

Alles, was in den Menschen vor sich geht, ihre Reaktionen, die Bewegungen. Dann steht es auch in Beziehung zu den Vögeln, zu den Blumen – sie antworten, die Vögel antworten sehr gut... Wirklich interessant, man könnte sehr interessante Dinge darüber schreiben, aber es ist zu viel.

(Schweigen)

Sind deine Nächte besser?

Ja, ja, liebe Mutter.

Schlaf in diesem Bewußtsein ein – ruf es, ruf es!... (Geste, sich darin einzuhüllen). Das ist sehr angenehm, oh... Eine sehr wohlige goldene Sanftheit, die der Körper sehr deutlich spürt.

 

Addendum

(Wir führen hier den Brief an, den Satprem an die Lektorin von Fayard schrieb, denn er berührt oder berührte eine wesentliche Problematik der westlichen Intellektualität. Seit 1969 hat sich vieles sehr verändert).

27. März 1969

Ich hatte Ihre Reaktion gespürt. Sie überrascht mich nicht. Dies ist genau eine der allgemeinen Schwierigkeiten, die es zu überwinden gilt. Vielleicht ist sie die härteste (sie scheint mir vor allem in Frankreich lokalisiert zu sein), und zwar die intellektuelle Schwierigkeit. Sie stellt wirklich einen Schleier dar, der die Sicht verhüllt und einen die Dinge auf einer sehr engen Ebene lesen und verstehen läßt. Man bekommt fast den Eindruck, daß die Leute durch eine schmale Spalte schauen und nur einen winzigen leuchtenden Streifen erfassen, und alles übrige entgeht ihnen: die Gipfel der Berge sind abgeschnitten, die Abgründe verstellt – es bleibt nur eine "reine" Linie. Und wenn ein Waghalsiger ihnen die Sicht weiter öffnen will, verliert sich der Sichtstreifen im "Nebel" oder in den "Dünsten", von denen Sie sprechen. Ein seltsames Phänomen... Ich weiß nicht, ob Sie mir glauben werden, aber ich sage Ihnen, daß jeder Satz Sri Aurobindos der Ausdruck oder die Übersetzung einer präzisen Erfahrung ist, und nicht nur stellt er eine ganze in einige Worte gefaßte Welt dar, sondern er enthält sogar die Schwingung der Erfahrung, ja fast die Qualität des Lichts der speziellen Welt, die er berührt, so daß sich durch die Worte sehr wohl die Erfahrung berühren läßt. Ich versichere Ihnen, Sri Aurobindo ist voller Wunder – voller reiner Wunder –, und jedesmal, wenn ich seine Texte wieder lese, entdecke ich sie von neuem, und ich sage mir: "Ach, wie gut er das erfaßt hat!" Und wenn zufällig eine Verschwommenheit besteht, bin ich sicher, daß dort noch eine Entdeckung zu machen ist. Sri Aurobindo benutzte niemals ein Wort zu viel. Sobald er die mentale Offensichtlichkeit erreicht – was für Sie genau der Ausgangspunkt für eine brillante Darlegung wäre –, bricht er ab. Er lächelt, läßt einen in der Luft hängen. Oh, er ist von überraschender Zurückhaltung, wie Sie selbst sagen, für einen Menschen, der Tausende von Seiten geschrieben hat.

Sie haben keinen Zugang zu Sri Aurobindo gefunden. Andererseits verstehe ich sehr gut, warum die Intellektuellen so leichten Zugang zum Zen finden. Aber ich will die jeweiligen Tugenden nicht vergleichen. Bei Sri Aurobindo begnüge ich mich damit, hinzusehen und zu lächeln... Sie haben mein Buch "besser verstanden", es brachte Ihnen "mehr als Sri Aurobindo", sagen Sie – aber ja, das erstaunt mich leider nicht: ich begnügte mich eben einfach mit den "mentalen Offensichtlichkeiten", die er vernachlässigte, ich kletterte eine gewisse Anzahl von Abstufungen nach unten. Die "Kraftlinien", die Sie spürten, sind lediglich die kleinen Fäden, die ich hier und da zog, um zu versuchen, die Leute mit den wahren Kraftlinien zu verbinden, die ihnen vollkommen zu entgehen scheinen, denn sie sehen und fühlen nur auf dem Niveau der mentalen Spalte. Aber ich versichere Ihnen und wiederhole, daß Sri Aurobindo ein Gigant ist und daß es bei ihm KEIN EINZIGES WORT gibt, das nicht sinngeladen wäre... Vor einiger Zeit wollte ich jemandem die Musik eines Genies zu Gehör bringen, der ein wirklicher Musikliebhaber ist (ein Europäer, der wie ich die Musik liebt und sich darin auskennt), und es handelte sich tatsächlich um die Musik eines Genies, von einem Inder komponiert. Doch der arme Bursche verstand nichts. Er hörte nichts. Seine musikalische Spalte war nur auf einem begrenzten Niveau offen, und was darüber lag, hörte er buchstäblich nicht: ein wahres Wunder, Ströme einer gewaltigen Musik, die direkt dem Ursprung der Musik entsprangen. Für ihn hatte sie keine Struktur, es war "ungeformte" Musik – während ich das Wunder sah, ich verstand, woher sie kam, ich berührte diese Welt, und sobald das geringste Nachlassen in dieser hohen musikalischen Spannung auftrat, fühlte ich sofort, daß es tiefer unten ein anderes Zentrum berührte... Dasselbe widerfuhr mir in Ägypten. In Oberägypten lebte ich wochenlang in einem Zustand der Ekstase, während ich von Leuten umgeben war, die nur die Ruinen und die schönen "Statuen" sahen – für mich jedoch waren diese Statuen lebendig, die Orte sprachen zu mir, die sogenannten "Ruinen" flossen über von Leben...

Was tun?

Sri Aurobindo sagte oder ließ öfter verlauten, daß das Schreiben für ihn eine Art Zugeständnis an die mentale Welt war, daß er jedoch liebend gern darauf verzichtet hätte und daß seine wahre Aktion im Schweigen stattfinde. Sri Aurobindo war kein Schriftsteller sondern ein Gärstoff der Evolution, eine gewaltige Antriebskraft wie Mutter. Man kann deshalb davon ausgehen, daß seine Bücher, selbst wenn sie schlecht oder gar nicht verstanden werden, diese Kraft in sich tragen und daß wir einfach darangehen und sie trotzdem veröffentlichen müssen, bis sich diese berühmte mentale Spalte eines Tages öffnet und die Leute staunend davorstehen. Das Werk wird trotz des mentalen Unverständnisses, ja sogar trotz des mentalen "Verständnisses" seinen Lauf nehmen. Es ist nur schade, daß die Leute die Schönheit des Spiels nicht sehen und nicht bewußt daran teilnehmen.

Ich glaube, bevor man in das große Königreich eintreten kann, muß man unwiderruflich gespürt haben, daß jegliches mentale Verständnis, alle mentalen Erleuchtungen und natürlich alle mentalen Erklärungen wertlos oder ungenügend sind... Seit mehr als zehn Jahren habe ich kein Buch mehr gelesen, aber wenn man mir ein Buch in die Hände legt, weiß ich sofort, auf welchem Niveau die Schwingung liegt. Um klarzusehen, muß man daraus heraustreten. Dasselbe gilt für das kleine Individuum. Sie bezeichnen "Heiligkeit" als Verzicht auf das Individuum? Aber das Individuum ist doch erst der Anfang des Menschseins! "Verzichtet" man auf einen Termitenhügel? – Man verläßt ihn einfach, und sofort ist alles weit und freudvoll. Wir stecken noch völlig in den Kinderschuhen des Menschseins.

S.

 

1 An Arthème Fayard.

Rückwärts zum Text

2 "Diese Anhäufung von Sätzen könnte man auf ein Zehntel reduzieren, ohne ihre Substanz zu beeinträchtigen."

Rückwärts zum Text

3 Erste Band der Synthese des Yoga wird in Frankreich 1972 erscheinen, zufälligerweise im April, genau drei Jahre später.

Rückwärts zum Text

4 Interessehalber veröffentlichen wir im Addendum den Brief, den Satprem an diese Lektorin bei Fayard geschrieben hatte, bevor er ihren Brief über Zen und Sri Aurobindo erhielt.

Rückwärts zum Text

5 Mutter hatte das Wort "zusammenarbeiten" verwendet, dann änderte sie es um in "zu dienen" und nahm weitere kleinere Korrekturen vor.

Rückwärts zum Text

 

 

 

 

 

 

 

in French

in English