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Mutters

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zehnten Band

9. August 1969

Die Unesco will eine Broschüre über "Toleranz" veröffentlichen, und sie schrieben an K und baten ihn um eine Botschaft von mir. Da habe ich dies geschrieben (Mutter lacht):

"Die Toleranz ist nur ein erster Schritt zur Weisheit. Die Notwendigkeit von Toleranz weist noch auf das Vorhandensein von Vorlieben hin. Wer im göttlichen Bewußtsein lebt, betrachtet alles mit einem vollkommenen Gleichmut der Seele."

Sie blasen sich auf und glauben, sehr erhaben zu sein, weil sie "Toleranz" besitzen – aber die Toleranz betrachtet die Dinge von oben herab, mit Verachtung.

(Schweigen)

Habe ich dich seit dieser Erfahrung gesehen?... Ich verbrachte eine Nacht, ich erinnere mich nicht mehr welche, aber es war seltsam... Ich war bei Sri Aurobindo, aber einem Sri Aurobindo... (wie soll ich sagen?) voller Freude, sehr lebhaft und etwas materieller, als ich ihn gewöhnlich sehe, fast... nicht materiell, aber deutlicher (ich kann es nicht erklären), und wir verbrachten mehrere Stunden zusammen beim Arbeiten: Dinge zu betrachten, Leute zu sehen, Dinge auszuführen usw. Und das Seltsame und Besondere daran war, daß es nicht davon abhing, ob mein Körper schlief: er schlief nicht, er verhielt sich bloß ruhig. Mittendrin mußte ich aufstehen, und auch beim Aufstehen hörten dieses Bewußtsein und diese Beschäftigung nicht auf. Stattdessen blieb das gewöhnliche Bewußtsein weniger genau (d.h. die Wahrnehmung der gewöhnlichen Dinge, des Zimmers usw.). Es verhielt sich genau andersherum, verstehst du. Das blieb lange, sogar noch am Vormittag – bis zu dem Zeitpunkt, wo ich Leute sehen und Dinge verrichten mußte.

Es war sehr eigenartig, und es geschah zum ersten Mal: Dieses etwas mehr nach innen gerichtete Bewußtsein war konkreter als das gewöhnliche Bewußtsein.

Seltsamerweise war es nicht etwa so, daß das gewöhnliche Bewußtsein und diese gewöhnlichen Dinge verblaßten und sich verwischten, sondern sie wurden... wie Papier (Mutter lacht) – Papier oder Rinde oder... etwas Trockenes – trocken, substanzlos, ohne wahre Realität, einfach wie eine dürftige Erscheinung. So war das Gefühl (Mutter macht eine Geste, als betaste sie ein Papier): wie Papier oder Rinde.

Dies geschah zum ersten Mal.

Ein sehr freudiger Sri Aurobindo... Seltsam... als sei er sehr zufrieden mit der Art und Weise, wie die Dinge laufen.

(Mutter verharrt lange schweigend)

Habe ich dir von dem Tierarzt in Italien erzählt, der ein Heilmittel gegen Krebs gefunden hat?... Dieser Mann entdeckte, daß Ziegen (als Rasse, auch Böcke) nie Krebs bekommen. Man versuchte sogar, Krebs in ihnen zu erregen, und es gelang ihnen nicht. Schlußfolgerung: in ihrem Aufbau ist etwas, das den Krebs verhindert. Sie fanden etwas im Magen (ich weiß es nicht genau), und er hat ein Serum zubereitet. Als Tierarzt hat er nicht das Recht, es selber zu verabreichen, aber er kennt befreundete Ärzte, und diese probierten es aus (etwa ein Dutzend) – eine ganz erstaunliche, unfehlbare Heilung. Aber es wirkt unterschiedlich: das Mittel von der Geiß heilt gewisse Fälle und das vom Bock andere; es heilt verschiedene Krebsarten (ich verstehe nichts davon). Jedenfalls lebt er irgendwo in Italien (ich weiß nicht, wo genau), ich lud ihn ein, hierherzukommen, was er annahm. Er wird kommen. Am Jahresende will eine ganze Gruppe junger Italiener für den Yoga Sri Aurobindos kommen, und wahrscheinlich wird er mit ihnen kommen. Oder er kommt mit Paolo, wenn der einverstanden ist, ihm die Reise zu bezahlen. Ich habe vor, ihn mit Doktor S in Verbindung zu bringen, damit sie gemeinsam sehen, und wenn es gut geht, werde ich ihn bitten zu bleiben. Denn weißt du, Doktor S hat jetzt in "Auromodèle" eine Art Ambulatorium eingerichtet (ein junger französischer Medizinstudent ist auch dort eingetroffen und ist sehr zufrieden). Man könnte dort also eine "Krebsklinik" eröffnen, das wäre wirklich interessant. Denn hier, unter der Leitung von Doktor S, gäbe es keine Schwierigkeiten – in Auroville kann er tun, was er will. Das wäre großartig.

Er wird vor Jahresende kommen. Der andere, der Heiler, wird im September eintreffen... Bei ihm werden wir sehen – wenn er die Leute hier heilen will, wird das gut sein.

Dies ergäbe sofort eine interessante Ausrichtung... "Auroville, die Stadt, in der man geheilt wird". Das wäre gut.

Dann wird die Natur andere Mittel erfinden müssen, um sich des menschlichen Überschusses zu entledigen.

Oh, an Mitteln fehlt es nicht...

Dieses unaufhaltsame Bevölkerungswachstum ist erschreckend.

Es gäbe ein Mittel: die menschlichen Wesen steril werden zu lassen, das wäre das beste Mittel. Und da haben sie sogar schon etwas gefunden – wenn die Frauen es regelmäßig nehmen, bekommen sie keine Kinder: eine Pille.

Ja, aber die Leute wollen sie nicht nehmen.

Doch, immer mehr nehmen sie... Oh, da ist noch die alte sentimentale Bindung. Solange es den Tod gibt, bleibt der Impuls, sich fortpflanzen zu müssen. Nur die Gegenwart des Todes ruft dieses Bedürfnis hervor. Ohne den Tod jedoch...

Ich weiß nicht, wie es in anderen Ländern ist, aber hier war jede absichtliche Abtreibung bis jetzt ein Verbrechen, d.h. sie wird gesetzlich bestraft – sie sind dabei, das abzuschaffen. Sie haben zu viele.

Sieh dir bloß Pondicherry an – schrecklich!

Oh, wenn sie fünf, sechs... bis zu einem Dutzend sind! Manche Familien haben zwölf Kinder. Das ist wirklich eine zu schnelle Vermehrung.

(langes Schweigen)

Dieses Bewußtsein, das seit Januar am Werk ist, besteht sehr darauf, daß man bewußt wird, daß man die Dinge willentlich tut: daß man willentlich geboren wird, willentlich stirbt, willentlich krank ist – daß der Wille das dominierende Prinzip sei. Es besteht sehr darauf.

Ich glaube, das wird viele Dinge ändern.

(Schweigen)

Stell dir vor, eine uralte Erinnerung ist mir wieder gekommen... von der Zeit der Jahrhundertwende. Ich weiß nicht warum, und sie will nicht verschwinden, deshalb werde ich sie dir erzählen – vielleicht besteht ein Grund dafür, ich weiß es überhaupt nicht.

Zu viert machten wir eine lange Wanderung von... ich weiß nicht welchem Ort, am Ufer der Rhône (ich erinnere mich nicht mehr genau), um über die Berge zu Fuß nach Genf zu gelangen, zu viert – zwei Männer und zwei Frauen 1 . Wir wanderten einfach drauflos, und wenn wir zur Mittagszeit irgendwo hinkamen und Hunger hatten, aßen wir dort etwas; wenn es Zeit zum Schlafen war, schliefen wir, und dann ging es weiter – ein richtiges Abenteuer. Wir kannten nicht einmal den Weg, wir hatten nur eine Landkarte. Einmal, weit entfernt von jeder Stadt, jedem Dorf, erreichten wir mittags auf einem Bergpfad eine einsam gelegene Herberge. Ringsherum war nichts. Wir traten ein. Dort waren ein alter Mann und eine alte Frau... die sehr seltsam schienen. Sie waren sehr aufgeweckt und munter – sie hatten etwas Merkwürdiges an sich. Wir fragten, ob wir etwas zu essen bekommen könnten. Sie erwiderten ja. Sie betrachteten uns, studierten uns genau, dann führten sie uns in einen großen Raum, in dem in einer Ecke ein Tisch mit Stühlen drum herum und einige große Bänke standen – ich weiß nicht, wozu dieser Raum diente. Sie brachten uns dort etwas zu essen. Sie sagten uns, sie hätten einen guten Weißwein, ob wir davon haben wollten. Die drei anderen sagten ja (ich trank schon zu der Zeit nichts). Die anderen tranken den Wein während des Essens (es war ein leichter Wein); ich rührte ihn nicht an. Nach der Mahlzeit sagten sie: "Oh, wie müde wir sind! Wir würden uns gern ausruhen, wir möchten schlafen." Sie streckten sich auf den Bänken aus und schliefen. Ich hatte ein Paar Schuhe an, das schlecht paßte und meinen großen Zeh gedrückt hatte. Das verursachte eine Schwellung und tat weh, also wollte ich den Fuß baden, um ihn zu desinfizieren. Ich war überhaupt nicht müde; ich setzte mich (da war eine Wasserschüssel) und badete meinen Fuß... Eine halbe Stunde später öffnete sich langsam die Tür des Zimmers, und die zwei Alten traten so herein (verstohlene Geste) ... Ich war hinter dem Tisch verborgen, denn ich saß recht niedrig, und sie sahen mich nicht. Sie traten auf Zehenspitzen herein, schauten sich um und gingen auf die Bänke zu, wo die anderen schliefen... Dann erblickten sie mich... ah! (Mutter macht eine Geste der Bestürzung) sie hielten inne. Ich hob den Kopf, sah sie an und fragte: "Was wünschen Sie?..." – "Oh ..." (sie waren sehr verschlagen), "wir sind bloß gekommen, um zu sehen, ob Sie irgend etwas brauchen." Dann verschwanden sie wieder.

Ich wußte SOFORT, daß sie gekommen waren, um zu stehlen – daß sie ein Betäubungsmittel in den Wein getan hatten und glaubten, alle schliefen... Aber das Bild, das mir wieder in den Sinn kam, war derart lebendig, als hätten sie ein großes Messer in der Hand gehabt...

Ich kann nicht verstehen, warum diese Erinnerung zurückkam.

Gewisse Dinge tauchen wieder auf, wenn ich etwas zu tun habe... Aber dies ist eine Geschichte von vor fast... es muß 1910 oder 12 gewesen sein, d.h. vor mehr als fünfzig Jahren. Diese Leute waren alt, sie sind seit langem tot – warum kam das zurück, was soll ich daraus lernen? Ich weiß es nicht... Es blieb so LEBENDIG, weißt du, wie etwas Lebendiges. Was will es mich lehren?... Natürlich immer die Gegenwart der Gnade, das ist selbstverständlich – aber das braucht man mir nicht zu zeigen, ich weiß es.

Sie lebten völlig einsam, weit weg von allem...

Das war wirklich wie eine Szene im Film, alles war arrangiert: man hätte nur den Film drehen müssen.

Das passierte in Savoyen, auf der französischen Seite, in den Bergen.

(langes Schweigen)

Seltsam...

 

1 Offenbar war auch der Maler Hohlenberg unter ihnen. Mutter erwähnte diesen Ausflug schon in zwei alten Entretiens am 5. Mai 1951 und am 18. November 1953.

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