Mutters
Agenda
zwölften Band
10. März 1971
(Satprem liest Mutter einen unveröffentlichten Brief Sri Aurobindos vor:)
Ein äußerst fruchtbares Abenteuer
Ebenso wie es eine Kategorie von Tatsachen gibt, zu denen unsere Sinne die besten vorhandenen, wenn auch sehr unvollkommenen Führer sind, und eine Kategorie von Wahrheiten, die wir durch das wache aber noch unvollkommene Licht unseres Verstandes suchen, so gibt es laut den Mystikern eine subtilere Kategorie von Wahrheiten, die über die Reichweite der Sinne wie auch des Verstandes hinausgehen, aber die durch ein unmittelbares inneres Wissen und eine unmittelbare Erfahrung bestätigt werden können. Diese Wahrheiten sind übersinnlich, deshalb jedoch nicht weniger real: Sie haben eine ungeheure Wirkung auf das Bewußtsein und verändern seine Substanz und Bewegung, denn sie bringen einen besonders tiefen Frieden und eine beständige Freude, ein großes Licht der Vision und des Wissens, sowie die Möglichkeit, die niedrige animalische Natur zu überschreiten, ja, Perspektiven der spirituellen Selbstentwicklung, die ohne sie nicht existieren. Eine neue Sicht der Dinge offenbart sich und bringt, wenn man ihr in allen Konsequenzen nachfolgt, eine große Befreiung, eine innere Harmonie, eine Einigung – sowie viele weitere Möglichkeiten. Zwar verfügte nur eine kleine Minderheit der menschlichen Rasse über die Erfahrung dieser Dinge, doch eine Vielzahl unabhängiger Beobachter in allen Epochen, auf allen Breitengraden und unter den verschiedensten Umständen haben Zeugnis davon abgelegt, darunter einige der größten Geister der Vergangenheit und bemerkenswertesten Persönlichkeiten der Welt. Muß man diese Möglichkeiten denn gleich als Chimäre verdammen unter dem Vorwand, daß sie sich nicht nur dem Durchschnittsmenschen entziehen, sondern selbst für zahlreiche kultivierte Geister unerreichbar sind oder daß ihre Methode schwieriger ist als die der gewöhnlichen Sinne und des Verstandes? Falls irgendeine Wahrheit in ihnen steckt, ist es dann nicht der Mühe wert, dieser von ihnen eröffneten Möglichkeit nachzugehen, da sie den höchsten Bereich der Selbstentdeckung und Weltentdekkung durch die menschliche Seele erschließen? Im besten Fall – wenn sie wahr sind –, muß es so sein; im ungünstigsten Fall, nur als Möglichkeit genommen, so wie alle Errungenschaften des Menschen in ihrem Anfangsstadium nur Möglichkeiten waren, bleibt es ein großes und vielleicht äußerst fruchtbares Abenteuer.
Sri Aurobindo
7.1.1934
Letters on Yoga, XXII.188
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(Einen Schüler betreffend, der das von Rishabhchand unvollendet zurückgelassene Buch Das Leben Sri Aurobindos fertigschreiben wollte.)
Ich dachte, Rishabhchand hätte Das Leben Sri Aurobindos beendet?
Es hörte auf mit Sri Aurobindos Ankunft in Pondicherry [1910].
Das genügt. Es ist nicht nötig, über das Weitere zu sprechen – ein oder zwei Sätze genügen.
Über sein Leben hier gibt es nichts zu sagen... Im Grunde kennt niemand wirklich sein Leben hier. Ich fürchte, man würde nur viel Unsinn sagen. Mir wäre es lieber, man sagte nichts – man sollte sagen, daß er sich nach Pondicherry zurückzog, um dort seinen Yoga zu verfolgen, daß nur das zähle und es besser sei, nicht davon zu sprechen. Das ist alles.
Es braucht nicht lang zu sein: ein Artikel, um die Serie abzuschließen, um zu sagen, daß sein Leben in Pondicherry ausschließlich dem Yoga gewidmet war, daß er geschrieben hat, was er sagen wollte, und daß es folglich nichts zu sagen gibt.
Wir haben alles, was er geschrieben hat, und das ist besser als alles, was man über ihn erzählen kann.
Was hört man da?
Nichts... Man spielt Flöte in der Schule... Es muß jemand mit Herz sein.
(Mutter streichelt Satprems Kopf und geht in sich)