Sri Aurobindo
Das Göttliche Leben
Buch 1
Kapitel XI. Seins-Seligkeit: Das Problem
Wer könnte denn leben
oder atmen, gäbe es nicht diese Seins-Seligkeit als den Äther, in dem wir
wohnen? Aus der Seligkeit sind alle diese Wesen geboren, durch Seligkeit
existieren und wachsen sie, in die Seligkeit kehren sie zurück.
Taittiriya Upanishad, II.7., III.6.
Selbst wenn wir dieses Reine Sein, dieses brahman,
dieses sat als absoluten Anfang, Ende und Gefäß der Dinge und ein in brahman
eingeborenes Selbstbewußtsein annehmen, das untrennbar ist von seinem Wesen, das
sich als eine Kraft der Bewegung des Bewußtseins ausbreitet und schöpferisch
wirkt in Kräften, Formen und Welten, haben wir immer noch die Frage zu
beantworten: “Warum sollte brahman, das doch vollkommen, absolut und
unendlich ist, nichts nötig hat und nichts begehrt, überhaupt Bewußtseins-Kraft
aus sich hervorbringen, um in sich selbst diese Welten der Formen zu
erschaffen?” Wir haben die Lösung abgelehnt, brahman werde durch seine
eigene Kraft-Natur gedrängt zu erschaffen, es sei durch seine eigene Potenz an
Bewegung und Gestaltung dazu gezwungen, in Formen einzugehen. Zwar trägt
brahman diese Potenz in sich, aber es ist dadurch nicht begrenzt, gebunden
oder gezwungen; es ist frei. Wenn es also frei ist, sich zu bewegen oder ewig in
Ruhe zu verbleiben, sich selbst in Formen zu verausgaben oder die Potenz zur
Form in sich selbst zurückzubehalten, und trotzdem seine Macht zu Bewegung und
Gestaltung genießt und einsetzt, kann das nur aus einem Grunde geschehen: zu
seiner Freude. Dieses ursprüngliche, höchste und ewige Sein ist, wie die
Vedantins erkannt haben, nicht nur leeres Sein, auch kein bewußtes Sein, dessen
Bewußtsein rohe Kraft oder Macht wäre. Vielmehr ist es ein bewußtes Sein, dessen
Wesens-Inbegriff und Inbegriff seines Bewußtseins Seligkeit ist. So wie es im
absoluten Sein kein Nichts, keine Nacht von Unbewußtheit und keinen Mangel, also
kein Versagen der Kraft geben kann – denn gäbe es etwas davon, wäre es nicht
absolut –, so kann es hier auch kein Leiden, keine Verneinung der Seligkeit
geben. Absolutheit bewußten Seins ist unbegrenzbare Wonne bewußten Seins; beides sind nur verschiedene Ausdrücke für dieselbe Sache. Alle
Unbegrenzbarkeit, alle Unendlichkeit, alle Absolutheit ist reine Seligkeit.
Selbst in unserem relativen Menschsein machen wir die Erfahrung, daß alles
Unbefriedigtsein Begrenzung, Widerstand bedeutet. Befriedigung tritt ein bei
Verwirklichung von Versagtem, bei Überschreiten der Begrenzung, bei Überwindung
des Hindernisses. Das kommt daher, weil unser ursprüngliches Wesen das Absolute
ist, im vollen Besitz unendlichen und unbegrenzbaren Selbst-Bewußtseins und
seiner Selbst-Macht, einem Selbst-Besitz, dessen anderer Name Selbst-Seligkeit
ist. Je mehr das Relative mit diesem Selbst-Besitz in Berührung kommt, desto
mehr nähert es sich der Zufriedenheit, berührt es die Freude.
Diese Selbst-Seligkeit des brahman ist aber nicht durch den stillen, bewegungslosen Besitz seines absoluten Selbst-Seins eingeschränkt. Ebenso wie seine Bewußtseins-Kraft fähig ist, sich unendlich und mit endloser Variation in Formen zu verausgaben, so ist auch seine Selbst-Seligkeit fähig zu Bewegung und Variation. Sie kann in jenem unendlichen Strömen und in der Verwandlungsfähigkeit des eigenen Wesens schwelgen, das sich im Wirbel zahlloser Systeme des Universums darstellt. Diese unendliche Bewegung und Variation seiner Selbst-Seligkeit auszulösen und sich daran zu erfreuen, ist der Zweck seines weit ausgebreiteten oder schöpferischen Spiels von Kraft.
Mit anderen Worten: Was sich da in Formen ausgegossen hat, ist ein dreieiniges Sein-Bewußtsein-Seligkeit, saccidananda, dessen Bewußtsein seiner Natur nach eine schöpferische, oder vielmehr eine sich selbst zum Ausdruck bringende Kraft ist, fähig, ihr selbstbewußtes Wesen in Phänomen und Form endlos zu variieren und sich an der Wonne dieser Variation unendlich zu erfreuen. Daraus folgt, daß alle existierenden Dinge sind, was sie sind, als Begriffe jenes Seins, als Begriffe jener bewußten Kraft, als Begriffe jener Seligkeit des Seienden. Genauso wie wir finden, daß alle Dinge veränderliche Formen des einen unveränderlichen Seins sind, endliche Resultate der einen unendlichen Kraft, so werden wir alle Dinge als den veränderlichen Selbst-Ausdruck der einen unveränderlichen, alles umfassenden Seligkeit des Selbst-Seins erkennen. In allem, was ist, wohnt die bewußte Kraft, und es existiert und ist, was es ist, durch diese bewußte Kraft. So ist auch in allem, was ist, die Freude des Seins, und es existiert und ist, was es ist, dank dieser Seligkeit.
Gegen diese alte vedantische Theorie vom Ursprung des
Kosmos machen im Mental des Menschen sofort zwei
mächtige Einwände Front: das Bewußtsein von Schmerz in Gefühl und Sinnen und das
ethische Problem des Bösen. Wie können wir uns das allgemeine Vorhandensein von
Kummer, Leid und Schmerz erklären, wenn die Welt ein Ausdruck von saccidananda
sein soll, nicht nur von einem Sein, das bewußte Kraft ist – denn das kann man
leicht zugeben –, sondern von einem Sein, das auch unendliche Selbst-Seligkeit
ist? Diese Welt erscheint viel eher als eine Welt des Leidens, denn als eine
Welt der Seins-Seligkeit. Gewiß ist diese Anschauung von der Welt übertrieben,
ein Irrtum der Perspektive. Wenn wir die Welt leidenschaftslos und mit der
einzigen Absicht betrachten, sie genau und ohne Emotionen einzuschätzen, finden
wir, daß die Summe der Daseins-Lust bei weitem die Summe des Daseins-Schmerzes
überwiegt, unbeschadet des gegenteiligen Anscheins und des Widerspruchs
individueller Fälle, und daß, aktiv oder passiv, an die Oberfläche hervortretend
oder darunter liegend, Daseins-Lust der Normalzustand der Natur ist. Der Schmerz
ist ein Ereignis des Gegenteils, das diesen Normalzustand zeitweilig aufhebt
oder überlagert. Gerade aus diesem Grund empfinden wir die geringere Summe von
Schmerz intensiver, wirft sie oft einen bedrohlicheren Schatten auf unser Dasein
als die größere Summe von Lust. Gerade weil letztere das Normale ist, schätzen
wir sie nicht so sehr, nehmen wir sie eigentlich kaum wahr, es sei denn, sie
steigert sich zu einer intensiveren Form ihrer selbst, zu einer Woge von
Glücksempfinden und zum Überschwang von Freude oder Begeisterung. Dies ist es,
was wir dann Seligkeit nennen und suchen, aber die normale Zufriedenheit im
Dasein, die immer da ist, unabhängig von irgendeinem Ereignis, einem besonderen
Grund oder Gegenstand empfinden wir als etwas Neutrales, das weder Lust noch
Schmerz bringt. Sie ist eben da, eine wunderbare praktische Tatsache, denn ohne
sie hätten wir nicht den allgemeinen, uns beherrschenden Selbsterhaltungstrieb.
Aber das ist es nicht, was wir suchen. Darum tragen wir es in unserer Gewinn-
und Verlustrechnung nicht auf dem Konto unserer Gefühle und Empfindungen ein. In
dieser Abrechnung zählen wir auf der einen Seite nur positive Freuden, auf der
anderen die Unannehmlichkeiten und Schmerzen auf. Schmerz berührt uns
intensiver, weil er unserem Wesen abnorm erscheint, unserer natürlichen Tendenz
entgegengesetzt ist und wir ihn als bösartige Einwirkung auf unser Dasein, als
Beleidigung und Angriff von außen gegen das empfinden, was wir sind und zu sein
suchen.
Indessen wird davon
nicht die philosophische Streitfrage berührt, ob der Schmerz etwas Unnormales,
ob seine Summe größer oder kleiner ist. Einerlei, ob größer oder kleiner, sein
Dasein als solches verursacht das ganze Problem. Wenn alles saccidananda ist,
wie können Schmerz und Leid überhaupt existieren? Dieses wirkliche Problem wird
oft noch weiter kompliziert durch eine falsche Einstellung, die von der Idee
eines persönlichen außerkosmischen Gottes ausgeht, und durch eine Teilfrage, die
ethische Schwierigkeit.
Das Argument lautet dann etwa so: saccidananda ist
Gott, ein bewußtes Wesen, der Urheber des Daseins. Wie kann dann Gott eine Welt
erschaffen haben, in der Er Seinen Geschöpfen Leiden auferlegt, den Schmerz
billigt und das Böse zuläßt? Wenn Gott der All-Gute ist, wer hat dann den
Schmerz und das Böse erschaffen? Wenn wir sagen, Schmerz sei eine Prüfung und
Heimsuchung, lösen wir das moralische Problem nicht, sondern haben dann einen
Gott, der amoralisch oder nicht-moralisch ist – vielleicht ein ausgezeichneter
Welt-Techniker, ein sehr kluger Psychologe, aber nicht ein Gott des Guten und
der Liebe, den wir verehren können, sondern nur ein Gott der Macht, dessen
Gesetzen wir uns zu unterwerfen haben oder von denen wir hoffen dürfen, seine
Launen zu besänftigen. Wer die Quälerei als Mittel zur Prüfung oder Heimsuchung
erfindet, steht gerichtet da, entweder wegen absichtlicher Grausamkeit oder
wegen sittlicher Empfindungslosigkeit. Wenn er überhaupt ein moralisches Wesen
ist, steht er niedriger als der höchste Instinkt seiner Geschöpfe. Wenn wir
aber, um aus dieser moralischen Schwierigkeit herauszukommen, den Schmerz ein
unvermeidliches Ergebnis und eine natürliche Strafe für das sittlich Böse
nennen, – eine Erklärung, die nicht einmal mit den Fakten des Lebens
übereinstimmt, oder wir müßten jene Theorie von Karma und Wiedergeburt
anerkennen, wonach die Seele jetzt für Sünden leiden muß, die sie vor dieser
Geburt in anderen Körpern begangen hat –, entgehen wir doch nicht dem wirklichen
ethischen Grundproblem: Wer hat dann dieses moralisch Böse erschaffen? Warum und
woraus wurde es erschaffen, das die Strafe von Schmerz und Leiden nach sich
zieht? Wenn wir aber einsehen, daß das sittliche Böse in Wirklichkeit eine Form
mentaler Krankheit oder Unwissenheit ist, erhebt sich wieder die Frage: Wer oder
was hat dieses Gesetz oder diese unerbittliche Verbindung erschaffen, die eine
mentale Krankheit oder einen Akt der Unwissenheit mit einer so schrecklichen
Zurückweisung und durch Qualen bestraft, die oft so übertrieben
und entsetzlich sind? Ein solches unerbittliches Karmagesetz ist unvereinbar mit
einem höchsten sittlichen und persönlichen Gottwesen. Darum hat die klare Logik
des Buddha die Existenz eines freien, alles regierenden, persönlichen Gottes
abgelehnt und erklärt: Alle Personalität ist eine Schöpfung von Unwissenheit und
dem Karma unterworfen.
In Wahrheit entsteht diese hier so kraß hervorgehobene Schwierigkeit nur, wenn wir die Existenz eines außer-kosmischen persönlichen Gottes annehmen, der nicht Selbst auch das Universum ist, eines Gottes, der das Gute und Böse, Schmerz und Leiden, für Seine Kreaturen geschaffen hat, Selbst darüber steht und davon nicht betroffen wird, der über einer leidenden, ringenden Welt wacht, sie regiert und Seinen Willen an ihr vollzieht oder, wenn Er dabei nicht Seinen Willen durchführt, erlaubt, daß die Welt durch ein unerbittliches Gesetz gehetzt wird, ohne daß sie bei Ihm Hilfe, höchstens ungenügende Hilfe finden kann,- eines Gottes, der eben nicht Gott, nicht all-mächtig, nicht all-gut und nicht all-liebend ist. Es gibt keine Theorie von einem außer-kosmischen moralischen Gott, mit der das Böse und das Leiden – die Erschaffung des Bösen und des Leidens – erklärt werden kann, man müßte denn zu einer unbefriedigenden Ausflucht greifen, die der aufgeworfenen Frage ausweicht, statt sie zu beantworten, oder einen direkten oder indirekten Manichäismus vertreten, der praktisch die Gottheit dadurch annulliert, daß er ihre Wege zu rechtfertigen oder ihre Werke zu entschuldigen sucht. Ein solcher Gott ist aber nicht das vedantische saccidananda. Das saccidananda des Vedanta ist ein Sein ohne ein Zweites. Alles was ist, ist Er. Wenn also das Böse und das Leiden existieren, ist Er es, der das Böse und das Leiden in der Kreatur trägt, in der Er Sich Selbst verkörpert hat. So ändert sich das Problem vollständig. Die Frage ist nicht mehr, wie Gott dazu kam, für Seine Geschöpfe Leiden und Böses zu erschaffen, das Er Selbst nicht auf Sich zu nehmen fähig, wogegen Er also immun ist, die Frage ist vielmehr: wie die einzige und unendliche Sein-Bewußtsein-Seligkeit dazu kam, in sich eindringen zu lassen, was nicht Seligkeit ist, sondern dessen unmittelbare Verneinung zu sein scheint.
So verschwindet die eine Hälfte der ethischen Schwierigkeiten – jene in ihrer einen unbeantwortbaren Form. Sie erhebt sich nun nicht mehr und kann auch nicht mehr vorgebracht werden. Grausamkeit anderen gegenüber, wobei Ich immun bleibe oder sogar an ihrem Leiden teilhabe und es danach bereue oder verspätetes Mitleid bezeige, ist die eine Sache.
Wenn Ich mir aber
selbst Leid zufüge, Ich, der Ich das einzige Sein bin, ist das eine ganz andere
Sache. Dennoch kann die ethische Schwierigkeit noch in einer abgewandelten Form
neu vorgebracht werden: Da All-Seligkeit notwendigerweise auch All-Güte und
All-Liebe sein muß, wie kann das Böse und das Leiden in saccidananda existieren,
da dieses doch kein mechanisches Dasein, sondern ein freies und bewußtes Wesen
ist, also frei, das Böse und das Leiden zu verurteilen und zurückzuweisen? Wir
müssen jedoch erkennen, daß das so formulierte Problem die Frage falsch stellt.
Denn man wendet dabei die Begriffe einer partiellen Behauptung an, als ob diese
auf das Ganze angewandt werden dürften. Die Ideen von Güte und Liebe, die wir so
in den Begriff der All-Seligkeit hineinbringen, entstammen einer dualistischen
und zerteilenden Auffassung der Dinge. Sie gründen sich allein auf die
Beziehungen zwischen den Kreaturen. Dennoch bestehen wir darauf, sie auf ein
Problem anzuwenden, das im Gegensatz dazu von der Annahme des Einen ausgeht, der
alles ist. Wir haben also zuerst zu untersuchen, wie das Problem in seiner
ursprünglichen Reinheit auf der Basis der Einheit in Verschiedenheit aussieht
und wie es gelöst werden kann. Nur dann können wir mit Sicherheit die
Teilprobleme und ihre Abwandlungen behandeln, also die Beziehungen von Kreatur
zu Kreatur auf der Grundlage der Zertrennung und Dualität.
Wenn wir so das Ganze überschauen und uns nicht nur auf
die menschliche Schwierigkeit und den menschlichen Standpunkt beschränken,
müssen wir erkennen, daß wir nicht in einer ethischen Welt leben. Der Versuch
menschlichen Denkens, dem Ganzen der Natur einen ethischen Sinn aufzuzwingen,
ist eine jener Handlungen willkürlicher, hartnäckiger Selbst-Verwirrung, einer
von jenen bedauerlichen Versuchen des Menschen, sich selbst und sein
beschränktes gewohnheitsmäßiges menschliches Ich in alle Dinge hineinzulesen und
sie von dem Standpunkt aus zu beurteilen, den er persönlich entwickelt hat.
Gerade das verhindert aber am wirkungsvollsten, zu wirklicher Erkenntnis und
umfassender Schau zu kommen. Die materielle Natur ist nicht ethisch. Das Gesetz,
das sie regiert, ist eine Koordinierung fester Gewohnheiten, die Gut und Böse
nicht beachten, nur Kraft, die erschafft, Kraft, die ordnet und erhält, Kraft,
die unparteiisch und unethisch stört und zerstört aufgrund eines geheimen
Willens in ihr, im Einklang mit der stummen Befriedigung dieses Willens in
seinen Selbst-Gestaltungen und Selbst-Zerstörungen. Auch die animalische und
vitale Natur ist unethisch, obwohl sie in ihrer
fortschreitenden Entwicklung das Rohmaterial hervorbringt, aus dem das höhere
Tierwesen den ethischen Impuls entwickelt. Wir machen dem Tiger so wenig
Vorwürfe, weil er seine Beute zerreißt und verschlingt, wie wir den Sturm
tadeln, weil er zerstört, oder das Feuer, weil es quält und tötet. Die
Bewußtheits-Kraft im Sturm, im Feuer oder im Tiger macht sich auch selbst keine
Vorwürfe und verurteilt sich nicht. Vorwurf und Verurteilung oder vielmehr
Selbst-Vorwurf und Selbst-Verurteilung sind der Anfang wahrer Ethik. Wenn wir
anderen Vorwürfe machen, ohne dasselbe Gesetz auch uns gegenüber anzuwenden,
sprechen wir nicht mit einem wahren ethischen Urteil, sondern verwenden wir nur
die Sprache, die die Ethik entwickelt hat, zu unseren Gunsten für einen
Gefühls-Impuls, für Abscheu oder Mißfallen gegenüber dem, was uns ärgert oder
verletzt.
Dieses Verabscheuen oder Mißfallen ist der primäre Ursprung der Ethik, aber selbst nichts Ethisches. Die Furcht des Rehs vor dem Tiger, die Wut des starken Geschöpfs gegen seinen Angreifer sind ein vitales Zurückschrecken der Daseins-Seligkeit des Individuums vor dem, was es bedroht. Bei weiterem Fortschritt der Mentalität verfeinert sich das zu Widerwillen, Mißfallen, Mißbilligung. Diese Mißbilligung dessen, was uns bedroht und verletzt, und die Billigung dessen, was uns schmeichelt und befriedigt, verfeinern sich nun in den Begriff dessen, was gut und böse ist für uns selbst, für unsere Gemeinschaft, für andere als uns, für andere Gemeinschaften als die unsrige und zuletzt zu allgemeiner Billigung des Guten und Mißbilligung des Bösen. Aber die grundlegende Natur der Sache bleibt durchweg dieselbe. Der Mensch verlangt danach, sich selbst auszudrücken, sich selbst zu entwickeln, mit anderen Worten, er bejaht in sich das progressive Spiel der Bewußten Kraft des Seins. Darin findet er seine fundamentale Seligkeit. Was diesen Selbst-Ausdruck, diese Selbst-Entfaltung und Befriedigung seines progressiven Selbsts verletzt, ist für ihn böse. Was ihm hilft, es bestätigt, erhöht, ausweitet und adelt, ist für ihn gut. Nur verändert sich sein Verständnis für seine Selbst-Entfaltung, es wird umfassender und höher. Er beginnt, über seine begrenzte Persönlichkeit hinauszuwachsen, andere mit einzubeziehen und schließlich alles in seinem Gesichtskreis zu umfassen.
Mit anderen Worten: Ethik ist eine Stufe in der
Evolution. Allen Stufen gemeinsam ist das Drängen von saccidananda, das Selbst
auszudrücken. Dieses Drängen ist zunächst nicht-ethisch. Danach ist es im Tier
unter-ethisch. Im intelligenten Tierwesen wird es sogar anti-ethisch, denn es läßt zu, daß wir eine Verletzung, die anderen zugefügt wird,
billigen, während wir sie mißbilligen, wenn sie uns angetan wird. In dieser
Beziehung ist der Mensch heute erst halb-ethisch. So, wie alles unter uns
unter-ethisch ist, mag oberhalb von uns, wohin wir schließlich gelangen werden,
etwas Über-ethisches sein, das auf die Ethik verzichten kann. Ethischer Impuls
und ethische Haltung sind zwar für die Menschheit hochwichtig, jedoch nur ein
Mittel, mit dem sie sich aus der niedrigeren Harmonie und Universalität in eine
höhere emporringt. Die niedere gründet sich auf die Unbewußtheit und wird durch
das Leben in individuelle Gegensätzlichkeiten zerbrochen. Die höhere ruht auf
einem bewußten Einssein mit allen Wesen des Daseins. Wenn wir zu diesem Ziel
gelangen, wird das Mittel der Ethik nicht mehr notwendig, sogar nicht mehr
möglich sein, da die Eigenschaften und Gegensätze, von denen sie abhängt, sich
natürlicherweise in endgültiger Versöhnung auflösen und verschwinden.
Besitzt also der ethische Standpunkt seine Gültigkeit nur für einen zeitweiligen, wenn auch höchst wichtigen Übergang aus der einen Universalität in eine andere, können wir ihn nicht auf die Gesamtlösung des Problems des Universums anwenden, sondern nur als ein Element neben anderen für diese Lösung anerkennen. Andernfalls laufen wir Gefahr, alle Tatsachen des Universums und den ganzen Sinn der Evolution unterhalb und oberhalb von uns zu verfälschen, um ihn einer temporären Betrachtung und einer nur halb-entwickelten Anschauung von der Nützlichkeit der Dinge anzupassen. Diese Welt ist dreischichtig: unterethisch, ethisch und überethisch. Wir müssen herausfinden, was ihnen gemeinsam ist. Nur so können wir das Problem lösen.
Als das allen Gemeinsame haben wir erkannt: die Befriedigung der bewußten Kraft des Seins, die sich in den Gestaltungen entfaltet und in dieser Entfaltung ihre selige Erfüllung sucht. In dieser Befriedigung oder Seligkeit des Selbst-Seins hat sie offenbar ihren Ursprung. Das ist das für sie Normale, hieran klammert sie sich, das macht sie zu ihrer Grundlage. Aber sie sucht nach immer neuen Formen von sich. Beim Übergang zu höheren Formen tritt das Phänomen von Schmerz und Leiden auf, das der fundamentalen Natur ihres Wesens zu widersprechen scheint. Das und dies allein, ist das grundlegende Problem.
Wie sollen wir es aber lösen? Sollen wir sagen:
saccidananda ist nicht Anfang und Ende der Dinge? Sollte Anfang und Ende etwa
das Nihil, ein neutrales Leeres, sein, das an sich nichts ist, aber doch alle
Potenzen des Seins und des Nicht-Seins, des
Bewußtseins und des Nicht-Bewußtseins, der Seligkeit und der Un-Seligkeit in
sich enthält? Wir mögen, wenn wir wollen, diese Antwort vielleicht akzeptieren.
Obwohl wir aber durch sie alles zu erklären suchen, haben wir in Wirklichkeit
gar nichts erklärt. Wir haben nur in dieses Nichts alles hineingepackt. Ein
Nichts, mit allen Potenzen angefüllt, ist der vollständigste Gegensatz gegen
mögliche Begriffe und Dinge. Wir haben also nur einen geringeren Widerspruch
durch einen größeren erklärt, indem wir den Selbst-Widerspruch der Dinge bis auf
die höchste Spitze getrieben haben. Ein Nichts ist das Leere, in dem es keine
Potentialitäten geben kann. Ein neutrales Unbestimmtes aller Potentialitäten ist
Chaos. Und wir haben nur das Chaos in das Leere getan, ohne zu erklären, wie es
dorthin gekommen ist. Wir wollen also wieder zu unserem ursprünglichen Begriff
von saccidananda zurückkehren und sehen, ob nicht auf jener Grundlage eine
vollständigere Lösung möglich ist.
Zunächst müssen wir uns klarmachen: Wenn wir von
universalem Bewußtsein sprechen, meinen wir etwas, das andersartig, wesenhafter
und umfassender ist als das wache mentale Bewußtsein des menschlichen Wesens.
Ebenso meinen wir, wenn wir von universaler Seins-Seligkeit sprechen, etwas, das
andersartig, wesenhafter und umfassender ist als das gewöhnliche emotionale und
sinnenhafte Vergnügen des individuellen menschlichen Geschöpfes. Die Worte Lust,
Freude und Wonne bedeuten so, wie sie der Mensch verwendet, begrenzte,
gelegentliche Regungen, die von gewissen gewohnten Ursachen abhängen, in
gleicher Weise wie ihr Gegenteil, Schmerz und Kummer, die auch begrenzte und
gelegentliche Regungen sind. Beide treten aus einem Hintergrund hervor, der
etwas anderes ist als sie. Seligkeit des Wesens ist universal, unbegrenzbar,
selbst-seiend. Sie hängt nicht von bestimmten Ursachen ab. Sie ist der
Hintergrund aller Hintergründe, aus dem Lust, Schmerz und die anderen, mehr
neutralen Erfahrungen auftauchen. Sobald sich die Seins-Seligkeit als Seligkeit
des Werdens zu realisieren sucht, tritt sie hervor in die Bewegung von Kraft und
nimmt selbst dabei verschiedene Formen von Bewegung an, deren positive und
negative Strömungen Lust und Schmerz sind. Unterbewußt in der Materie,
überbewußt jenseits der Mentals, sucht sich diese Seligkeit in Mental und Leben
dadurch zu verwirklichen, daß sie im Werden, im wachsenden Selbst-Bewußtsein der
Bewegung in Erscheinung tritt. Ihre ersten Phänomene sind zwiespältig und
unrein. Sie bewegen sich zwischen den Polen von
Lust und Schmerz. Die Seligkeit strebt aber danach, sich in der Reinheit einer
höchsten Seligkeit des Wesens zu offenbaren, die selbst-seiend und unabhängig
ist von Objekten und Ursachen. So wie saccidananda hinstrebt zur Realisation des
universalen Seins im Individuum und zu dem die Form überwindenden Bewußtsein in
der Form von Körper und Mental, so bewegt es sich auch hin zur Realisation einer
universalen, selbst-seienden und objektlosen Seligkeit im Strom besonderer
Erfahrungen und Objekte. Diese Anlässe und Inhalte suchen wir jetzt als
anregende Ursachen für eine vorübergehende Lust und Befriedigung. Sind wir aber
frei und im Besitz unseres Selbsts, werden wir sie nicht mehr suchen, vielmehr
als Reflektoren – statt als Ursachen – einer Seligkeit besitzen, die ewig ist.
In dem vom Ich bestimmten menschlichen Wesen, in der mentalen Person, die aus der dunkeln Schale der Materie hervortritt, ist die Seins-Seligkeit neutral, halb-verborgen, noch im Schatten des Unterbewußten, kaum mehr als ein noch unsichtbarer Pflanzboden, der einmal reiche Frucht bringen kann, jetzt aber durch das Verlangen mit dem üppigen Wuchs giftigen Unkrauts und kaum weniger giftiger Blumen bedeckt ist: mit den Schmerzen und Lüsten unseres egoistischen Daseins. Wenn die Göttliche bewußte Kraft, die insgeheim in uns wirkt, diese Gewächse des Verlangens verzehrt hat, wenn (nach dem Bild des Rig Veda) das Feuer Gottes den Wildwuchs der Erde abgebrannt hat, wird das, was an den Wurzeln dieser Schmerzen und Lüste verborgen ist, ihre Ursache und ihr geheimes Wesen, der Saft der Seligkeit in ihnen, in neuen Formen hervortreten: in Formen einer aus dem Selbst seienden frohen Befriedigung, nicht mehr in jenen des Verlangens. Die Lust des sterblichen Wesens wird durch die Wonne der Unsterblichkeit ersetzt werden. Diese Transformation ist deshalb möglich, weil die Gewächse der Sinne und Gefühle in ihrem wesenhaften Sein, die Schmerzen nicht weniger als die Lust, jene Seins-Seligkeit sind, die sie zwar suchen, aber noch nicht offenbaren können. Sie versagen wegen der Zertrennung, der Unkenntnis des Selbsts und der Ichhaftigkeit.