Sri Aurobindo
Das Göttliche Leben
Buch 1I
Kapitel XIX. Aus der siebenfachen Unwissenheit zum siebenfachen Wissen
Sieben Stufen hat das Gelände der Unwissenheit, sieben Stufen hat das Gebiet des Wissens.
Mahopanishad, V. 1.
Er fand das unermeßliche Denken mit sieben Köpfen, das aus der Wahrheit geboren ist. Er erschuf eine vierte Welt und wurde universal... Die Söhne des Himmels, die Helden des Allmächtigen, die den aufrichtigen Gedanken denken, der Wahrheit Stimme verleihen, begründeten den Bereich der Erleuchtung und nahmen das erste Domizil des Opfers wahr... Der Meister der Weisheit warf die steinernen Verteidigungsanlagen nieder und rief die Herden des Lichts . . . Die Herden, die in der Verborgenheit auf der Brücke über die Lüge stehen zwischen zwei Welten, eine unten und eine oben. Da er Licht in der Finsternis begehrte, brachte er die Strahlen-Herde hinauf und befreite die drei Welten von ihrer Verhüllung. Er zerschmetterte die Stadt, die im Hinterhalt verborgen liegt, und schnitt die drei aus dem Ozean heraus. Er entdeckte die Morgenröte und die Sonne und das Licht und die Welt von Licht.
Rig Veda, X. 67.1-5.
Bei seinem ersten Eintritt in die Geburt im höchsten Äther des großen Lichtes – seiner Geburten sind viele, seiner Münder Worte sieben, sieben seiner Strahlen – zerschmettert der Meister der Weisheit die Finsternis mit seinem Ruf.
Rig Veda, IV. 50. 4.
Ihrem Wesen nach ist jede Entwicklung eine Steigerung der Kraft des Bewußtseins im geoffenbarten Wesen, so daß dieses in eine höhere Intensität dessen emporgehoben werden kann, was noch ungeoffenbart ist: von Materie in Leben, von Leben in Mental, von Mental in Geist. Das muß auch die Methode unseres Wachsens aus einer mentalen in eine spirituelle und supramentale Manifestation sein, aus einem noch halb-tierhaften Menschentum in ein göttliches Wesen und göttliches Leben. Erlangen müssen wir dabei: eine neue spirituelle Höhe, Weite, Tiefe, Freiheit; eine neue Intensität unseres Bewußtseins, seiner Substanz, Kraft und Sensibilität; eine Erhebung, Ausdehnung, Formbarkeit und integrale Begabung unseres Wesens; einen Aufstieg des Mentals und all dessen, was unterhalb des Mentals ist, in jenes umfassendere Sein. In einer künftigen Transformation wird sich der Charakter der Evolution, das Prinzip des evolutionären Prozesses, auch wenn es abgewandelt wird, nicht grundlegend verändern. Vielmehr wird es sich in einem größeren Maßstab und einer befreiten Bewegung herrlich weiter entfalten. Umwandlung in ein höheres Bewußtsein oder in einen höheren Wesenszustand ist nicht nur Ziel und Prozeß der Religion, aller höheren Askese, des Yoga. Sie ist ebenso die eigentliche Tendenz unseres Lebens an sich, der geheime Zweck, der sich in der Summe seines Ringens vorfindet. Das Prinzip des Lebens in uns sucht sich ständig auf den Ebenen des Mentals, der Vitalität und des Körpers, die es bereits besitzt, zu behaupten und zu vervollkommnen. Es wird aber auch vom Selbst angetrieben, darüber hinauszugehen und diese Gewinne in Mittel umzuwandeln, durch die sich der bewußte Geist in der Natur entfaltet. Würde nur eine einzige Seite von uns – Intellekt, Herz, Wille oder vitales Selbst des Begehrens –, unzufrieden mit seiner Unvollkommenheit und mit der Welt, danach streben, dem zu entkommen zu einer größeren Höhe des Seins, und sich damit zufriedengeben, den Rest der Natur sich selbst zu überlassen oder unterzugehen, dann würde das Ergebnis einer solchen völligen Umwandlung nicht eintreten, sich zumindest nicht hier ereignen. Das ist aber nicht die vollständige Tendenz unseres Seins. Es gibt ein Ringen der Natur in uns, mit allem, was wir sind, emporzukommen zu einem Prinzip, das höher ist als jenes, das sie hier entwickelt hat. Es ist aber ganz und gar nicht ihr Wille, sich bei diesem Aufstieg zu zerstören, als ob das höhere Prinzip ausschließlich durch Zurückweisung und Vernichtung der Natur durchgesetzt werden könnte. Unentbehrlich ist dabei, die Kraft des Bewußtseins so zu steigern, bis es aus der mentalen, vitalen und physischen Instrumentation in Wesen und Macht des Geistes übergeht. Aber auch das ist nicht der einzige Zweck, nicht alles, was getan werden muß.
Unsere Berufung muß sein, daß wir in unserem ganzen Wesen auf einer neuen Höhe leben. Um diese Höhe zu erreichen, brauchen wir aber unsere dynamischen Wesensseiten nicht in den unbestimmten Stoff der Natur zurücksinken zu lassen, um durch diesen befreienden Verlust in einem seligen Schweigen des Geistes zu verharren. Das kann zwar stets getan werden, und es bringt uns große Ruhe und Befreiung. Die Natur selbst aber erwartet von uns, daß wir alles, was wir sind, in das spirituelle Bewußtsein emporheben, damit es zu einer offenbaren und vielfältigen Macht des Geistes wird. Vollständige Umwandlung ist das integrale Ziel des Wesens in der Natur, der ursprüngliche innere Sinn ihres universalen Drängens auf die Selbst-Transzendierung. Aus diesem Grund ist der Prozeß der Natur nicht darauf beschränkt, sich in ein neues Prinzip emporzuheben. Die neue Höhe ist kein enger, starker Gipfel. Sie bringt eine Ausweitung des Lebens mit sich und begründet für es ein umfassenderes Feld, in dem die Macht des neuen Prinzips genügend Spielraum für ihr Hervortreten hat. Dieses Wirken, das zugleich erhöht und ausweitet, ist nicht auf eine äußerst mögliche Ausweitung im wesenhaften Kräftespiel des neuen Prinzips selbst begrenzt. Es schließt auch ein, daß alles, was niedriger ist, in die höheren Werte emporgehoben wird. Das göttliche oder spirituelle Leben wird nicht nur das mentale, vitale und physische Leben, transformiert und spiritualisiert, in sich aufnehmen. Es wird ihnen auch einen viel weiteren und volleren Spielraum darbieten, als ihnen offenstand, solange sie noch auf ihrer eigenen Stufe lebten. Dadurch, daß wir über uns selbst hinauskommen, braucht unser mentales, physisches und vitales Dasein nicht zerstört zu werden. Es wird auch nicht herabgemindert und beeinträchtigt, wenn es spiritualisiert wird. Diese Seiten können viel reicher, größer, mächtiger und vollkommener werden, und sie werden es auch. Durch ihre göttliche Umwandlung dringen sie in Möglichkeiten ein, die in ihrem nicht-spiritualisierten Zustand nicht verwirklichbar oder vorstellbar sein konnten.
Ihrer Natur nach ist diese Evolution, dieser Prozeß der Erhöhung, Ausweitung und Einbeziehung, ein Wachsen und Emporsteigen aus der siebenfachen Unwissenheit in das integrale Wissen. Bei der Unwissenheit liegt die Hauptschwierigkeit im Konstitutionellen. Sie läßt sich zusammenfassen in eine siebenfache Unwissenheit darüber, was der wahre Charakter unseres Werdens ist, und in eine Unbewußtheit unseres vollständigen Selbsts. Der Schlüssel dazu liegt darin, daß wir durch die Ebene, die wir bewohnen, und durch das jetzt und hier vorherrschende Prinzip unserer Natur eingeschränkt sind. Die Ebene, die wir bewohnen, ist die Ebene der Materie. Das gegenwärtig in unserer Natur vorherrschende Prinzip ist die mentale Intelligenz mit dem Sinnen-Mental, das abhängig ist von der Materie als seiner Stütze und seinem Träger. Eine Konsequenz daraus und ein besonderer, der konstitutionellen Unwissenheit aufgeprägter Stempel ist es, daß die mentale Intelligenz und ihre Mächte vor allem interessiert sind am materiellen Dasein, wie es ihnen durch die Sinne gezeigt wird, und an dem Leben so, wie dieses in einem Kompromiß zwischen Leben und Materie formuliert ist. Dieser natürliche Materialismus oder materialisierte Vitalismus, in dem wir uns an unsere Anfänge klammern, ist eine Form von Selbst-Begrenzung, die den Horizont unseres Daseins einengt und dem Wesen des Menschen stark anhaftet. Zwar ist das eine erste Notwendigkeit für sein physisches Dasein. Danach wird er aber durch primäre Unwissenheit an eine Kette geschmiedet, die jeden seiner Schritte aufwärts behindert. Der erste wirklich progressive Schritt unseres Menschseins besteht darin, daß wir versuchen, aus dieser Begrenzung von Ganzheit, Macht und Wahrheit des Geistes durch die materialisierte mentale Intelligenz und aus dieser Unterwerfung der Seele unter die materielle Natur herauszuwachsen. Denn unsere Unwissenheit ist nicht vollständig. Sie ist eine Begrenzung unseres Bewußtseins, aber nicht jene vollständige Nichtbewußtheit, die die gleiche Unwissenheit in den Formen des rein materiellen Daseins prägt, die ihren Ort nicht nur auf der Ebene der Materie, sondern die Materie auch als das sie beherrschende Prinzip hat. Das ist bei uns ein partielles, begrenztes, zerteilendes und, in starkem Maße, verfälschendes Wissen. Wir sollen aus dieser Beschränkung und Verfälschung in die Wahrheit des spirituellen Wesens hineinwachsen.
Das vorwiegende Interesse an Leben und Materie ist am Anfang richtig und notwendig, da das der erste Schritt ist, den der Mensch tun muß, um dieses physische Dasein zu erkennen und es so gut, wie er kann, zu besitzen, indem er sein Denken und seine Intelligenz auf jede Erfahrung dieses Daseins richtet, die ihm sein Sinnen-Mental geben kann. Das ist aber nur ein vorläufiger Schritt. Wenn wir hier innehalten, haben wir keinen wirklichen Fortschritt erzielt. Wir sind immer noch dort, wo wir vorher waren. Wir haben nur einen größeren physischen Ellbogenraum gewonnen, um uns darin zu bewegen. Wir haben unserem Mental mehr Macht verschafft, relative Erkenntnis und ungenügende, ungesicherte Herrschaft zu gewinnen. Unser Lebens-Begehren kann die Dinge besser umherstoßen, mit ihnen jonglieren und sie mitten im Lärm der physischen Kräfte und Formen herumwirbeln. Der wesenhafte Gewinn für uns, das einzige, was uns zu erwerben not tut, liegt nicht darin, daß wir unser physikalisches objektives Wissen bis zum äußersten ausweiten, auch wenn es die entferntesten Sonnen-Systeme, die tiefsten Schichten von Erde und Meer sowie die subtilsten Mächte der materiellen Substanz und Energie umfassen würde. Aus diesem Grund erweist sich das Evangelium des Materialismus, trotz der blendenden Triumphe der Naturwissenschaften, am Ende stets als leere und hilflose Weltanschauung. Aus dem gleichen Grund kann die physikalische Wissenschaft trotz all ihrer Errungenschaften, selbst wenn sie ein bequemes Dasein schaffen könnte, niemals Glück und volle Erfüllung für alle Menschen erreichen. Unser wahres Glück liegt im wahren Wachstum unseres ganzen Wesens, in einem Sieg, der den ganzen Bereich unseres Daseins umfaßt, in der Meisterschaft über die innere wie die äußere – ja, mehr als die äußere, über unsere verborgene ebenso wie über unsere vordergründige Natur. Unsere wahre Vollkommenheit kommt nicht dadurch, daß wir auf der Ebene, auf der wir anfingen, immer weitere Kreise beschreiben, sondern dadurch, daß wir über diese hinauskommen. Aus diesem Grunde müssen wir, nachdem wir die ersten notwendigen Fundamente in Leben und Materie gelegt haben, die Kraft unseres Bewußtseins verstärken, sie ausweiten und verfeinern. Wir sollen zuerst unser mentales Selbst befreien und Zugang finden zu einem freieren, feineren und edleren Spiel unseres mentalen Daseins. Denn viel mehr als das physische ist das mentale unser wahres Sein, da wir gerade in unserer instrumental ausdrucksstarken Natur vorwiegend Mental, und nicht Materie, viel eher ein mentales als ein physisches Wesen sind. Dieses Hineinwachsen in das vollständige mentale Wesen ist die erste Übergangsbewegung zur menschlichen Vollkommenheit und Freiheit. Sie vervollkommnet und befreit die Seele noch nicht eigentlich. Sie hebt uns aber eine Stufe höher aus dem völligen Aufgezehrtsein im Materiellen und Vitalen und bereitet uns darauf vor, daß die Unwissenheit ihre Macht über uns lockert.
Wenn wir vollkommenere mentale Wesen werden, besteht unser Gewinn darin, daß wir die Möglichkeit zu einem feineren, höheren und umfassenderen Sein, Bewußtsein und Glück, zu mehr Kraft und Freude unseres Wesens erlangen. Je nachdem, wie wir auf der Stufenleiter des Mentals emporsteigen, kommt eine höhere Macht dieser Dinge über uns. Unser mentales Bewußtsein gewinnt für sich umfassendere Schau und Macht; es wird subtiler und formbarer. Wir können mehr vom eigentlichen vitalen und physischen Dasein in uns aufnehmen. Wir erkennen und verwenden es besser. Wir bieten ihm edlere Werte, größere Reichweite und verfeinertes Wirken, – eine ausgeweitete Stufenfolge und höhere Ziele. Der ihn charakterisierenden Macht nach ist der Mensch ein mentales Wesen. Wenn er in die Evolution eintritt, hat er bei den ersten Schritten jedoch mehr von einem mentalisierten Tier an sich, das, wie das Tier, vor allem an seinem körperlichen Dasein interessiert ist. Sein Mental verwendet er für den Gebrauch, die Interessen und das Begehren von Leben und Körper, als deren Knecht und Diener, noch nicht als deren Herr und Meister. In dem Umfang, in dem er in seinem Mental wächst, sein Mental sein Selbst-sein und seine Unabhängigkeit von der Tyrannei des Lebens und der Materie behauptet, gewinnt er auch an Gestalt. Auf der einen Seite kontrolliert und erleuchtet das Mental durch seine Emanzipation das Leben und die Körperlichkeit. Auf der anderen Seite gewinnen die rein mentalen Ziele, Aktivitäten und das Streben nach Erkenntnis ihren Wert. Das von der niederen Kontrolle und Vorherrschaft befreite Mental führt eine ordnende Regel in das Leben ein, hebt es empor, verschönt es und entwickelt mehr Ausgeglichenheit und Harmonie. Die vitalen und körperlichen Regungen werden gelenkt und zurechtgerückt. Sie werden, soweit dazu geeignet, durch mentale Organisation umgewandelt. So werden sie dazu angehalten, Werkzeuge der Vernunft zu werden und einem erleuchteten Willen, einer sittlichen Anschauung und ästhetischen Intelligenz zu gehorchen. Je mehr das erreicht wird, desto mehr wird die Rasse wahrhaft menschlich, zu einer Rasse mentaler Wesen.
Diese Auffassung vom Leben wurde von den griechischen Denkern in den Vordergrund gerückt. Lebendiges Aufblühen im Lichte dieses Ideals verleiht dem hellenischen Leben und seiner Kultur einen so faszinierenden Glanz. In späteren Zeiten ging diese Auffassung verloren. Als sie dann wieder auftauchte, kam sie sehr vermindert wieder, mit anderen Elementen vermischt. Der Souveränität des Mentals und der Harmonie des Lebens, seiner Schönheit und Ausgeglichenheit stand die Verwirrung durch ein spirituelles Ideal im Wege, das vom Verstand nur unvollkommen erfaßt und in der Lebenspraxis gar nicht verwirklicht wurde. Doch war es mit seinen positiven und negativen mentalen und moralischen Einflüssen gegenwärtig und hatte überdies den Druck eines vorherrschenden ungeordneten vitalen Dranges gegen sich, der nicht zu einer freien, selbst-zufriedenen Bewegung kommen konnte. Man gewann zwar Aufgeschlossenheit für höhere Ideale und mehr Ausweitung des Lebens. Aber die Elemente des neuen Idealismus wurden nur als Einfluß auf diese Aktivitäten geltend gemacht. Sie konnten nicht die Herrschaft in ihnen gewinnen und sie umwandeln. Zuletzt wurde dann das auf solche Weise falsch verstandene und nicht verwirklichte spirituelle Bemühen aufgegeben. Zwar verblieben dessen moralische Auswirkungen; da sie aber der sie tragenden spirituellen Elemente beraubt waren, waren sie zur Wirkungslosigkeit verurteilt. Der durch die ungeheure Entwicklung seiner physischen Intelligenz unterstützte vitale Drang wurde nun zur mächtigsten Antriebskraft des Menschengeschlechts. Das erste Ergebnis war das imponierende Anwachsen einer bestimmten Art von Wissen und praktischer Tüchtigkeit. Das jüngste Ergebnis ist eine gefährliche spirituelle Erkrankung und gewaltige Unordnung.
Denn das Mental an und für sich ist nicht genug. Selbst das reichste Spiel der Intelligenz schafft nur begrenztes Halb-Licht. Eine nur äußerliche mentale Erkenntnis des physikalischen Universums ist ein unvollkommener Führer. Für das denkende Tierwesen mag das genug sein, nicht aber für ein Geschlecht mentaler Wesen, das in den Geburtswehen einer spirituellen Evolution liegt. Allein durch die Physik und äußere Erkenntnis, nur durch die Beherrschung der physikalischen und mechanischen Prozesse, kann die Wahrheit selbst der physischen Dinge nicht voll erkannt, noch kann der rechte Gebrauch unseres materiellen Daseins durch sie entdeckt oder ermöglicht werden. Zur rechten Erkenntnis und Verwendung müssen wir über die Wahrheit der physikalischen Phänomene und Prozesse hinausgehen. Wir müssen das erkennen, was im Innern und dahinter ist. Wir sind nicht nur ein verkörpertes Mental. Es gibt auch noch ein spirituelles Wesen, ein spirituelles Prinzip und eine spirituelle Ebene der Natur. In sie sollen wir die Kraft unseres Bewußtseins erhöhen und dadurch die Reichweite unseres Wesens und das Feld unseres Wirkens noch umfassender, ja, allumfassend und unendlich gestalten. So sollen wir unser niederes Leben emporheben und im Licht der spirituellen Wahrheit des Seins für höhere Zwecke und auf umfassenderer Ebene verwenden. Erst dann kann das Ringen unseres Mentals und der Kampf unseres Lebens zum Sieg kommen, wenn wir über die uns beherrschende Führung durch die niedere Natur hinausgelangt sind, wenn unser natürliches Wesen in Wesen und Bewußtsein des Geistes integriert ist und wir gelernt haben, unsere natürlichen Instrumente durch die Kraft und für die Freude des Geistes zu verwenden. Nur dann kann sich die konstitutionelle Unwissenheit, die Unwissenheit in bezug auf die wirkliche Struktur unseres Seins, unter der wir leiden, in ein wahres und wirksames Wissen von unserem Wesen und Werden umwandeln. Denn eigentlich sind wir Geist, der gegenwärtig vorwiegend das Mental, auf untergeordnete Art auch das Leben und den Körper, verwendet, wobei die Materie unser ursprüngliches, doch nicht das einzige Feld unserer Erfahrung ist. Das gilt freilich nur für den jetzigen Zustand. Unsere unvollkommene mentale Instrumentation ist nicht das letzte Wort unserer Möglichkeiten. Denn, schlafend oder unsichtbar und unvollkommen aktiv, gibt es in uns andere Prinzipien, jenseits des Mentals und näher zur spirituellen Natur. Es gibt unmittelbare Mächte und erleuchtete Instrumente, einen höheren Zustand und größere Bereiche für ein dynamisches Wirken als die unserem jetzigen physischen, vitalen und mentalen Dasein zugehörenden. Diese können zu unserem eigenen Zustand, zu einem Teil unseres Wesens werden. Sie können Prinzipien, Mächte und Instrumente unserer erweiterten Natur sein. Dafür ist es aber nicht ausreichend, daß wir uns mit einem vagen oder ekstatischen Aufschwung in den Geist oder mit einem gestaltlosen Entzücken wegen des Kontakts mit den Unendlichkeiten zufriedengeben. Ihr Prinzip muß sich genauso evolutionär entfalten, wie sich Leben und Mental entwickelt haben. Es muß seine eigene Instrumentation, seine eigene Befriedigung organisieren. Erst dann werden wir die wahre Verfassung unseres Wesens in Besitz, die Unwissenheit besiegt haben.
Die Überwindung unserer angeborenen Unwissenheit kann erst dann vollständig und umfassend dynamisch sein, wenn wir unsere psychologische Unwissenheit überwunden haben; denn beide sind eng miteinander verbunden. Unsere psychologische Unwissenheit beruht in der Einschränkung der Erkenntnis unseres Selbsts auf jene kleine Welle oberflächlicher Strömung in unserem Wesen, die unser bewußtes waches Selbst ist. Diese Seite unseres Wesens ist ursprünglich ein Dahinfließen formloser oder nur halb-formulierter Bewegungen, die in automatischer Kontinuität weitergetragen werden. Sie wird unterstützt und zusammengehalten durch eine aktive vordergründige Erinnerung und durch ein passives zugrundeliegendes Bewußtsein. In ihrem Dahinströmen von einem Augenblick zum anderen wird sie von unserer Vernunft und unserer sie beobachtenden und an Ihr teilnehmenden Intelligenz organisiert und interpretiert. Hinter ihr steht ein geheimes Sein und die Energie unseres verborgenen Wesens. Ohne diese könnten das vordergründige Bewußtsein und seine Aktivität nicht existiert oder gewirkt haben. In der Materie ist nur Aktivität manifestiert, an der Außenseite der Dinge unbewußt, und das ist alles, was wir erkennen. Denn das der Materie innewohnende Bewußtsein ist verborgen, subliminal, nicht als unbewußte Form oder involvierte Energie manifest. In uns jedoch ist das Bewußtsein teilweise manifest, teilweise wach geworden. Dieses Bewußtsein ist aber noch eingesperrt und unvollkommen. Es ist durch seine gewohnheitsmäßige Selbst-Begrenzung gefesselt und bewegt sich nur in einem beschränkten Kreislauf, außer wenn es zu Lichtblitzen, zu Eingebungen oder einem Aufwallen aus den geheimen Tiefen in unserem Innern kommt, die die Begrenzungen der äußeren Form durchbrechen, über sie hinwegströmen oder den Wirkungskreis ausweiten. Diese gelegentlichen Offenbarungen des Geistes können uns aber nicht weit über unsere gegenwärtigen Fähigkeiten hinausbringen. Sie sind nicht stark genug, um unseren Status zu revolutionieren. Das kann nur geschehen, wenn wir die höheren, noch nicht geoffenbarten Lichter und Mächte hineinzubringen vermögen, die in unserem Wesen potentiell vorhanden sind, und wenn wir sie bewußt und normal im Kräftespiel einsetzen. Wir müssen fähig sein, uns aus jenen Bereichen unseres Wesens zu versorgen, die uns zwar ursprünglich eigen, gegenwärtig aber noch un-bewußt, eigentlich insgeheim innen-bewußt oder außen-bewußt oder auch über-bewußt sind. Oder wir müssen – das geht zwar darüber hinaus, ist aber doch möglich – in diese unsere eigenen inneren und höheren Seiten gelangen durch einen Sprung nach innen oder durch diszipliniertes Eindringen und dann ihre Geheimnisse mit uns nach außen zurückbringen. Oder wir sollen eine noch radikalere Umwandlung unseres Bewußtseins erreichen und lernen, in unserem Innern, nicht mehr nur an der Außenseite zu leben. Wir sollen aus den inneren Tiefen und von der Seele her, die souverän über die Natur geworden ist, sein und handeln.
Jene Seite von uns, die wir im engeren Sinn unterbewußt nennen können, weil sie unterhalb des Mentals und des bewußten Lebens liegt, diesem untergeordnet und dunkel, umfaßt die rein physischen und vitalen Elemente des Aufbaus unseres körperlichen Wesens, unmentalisiert und unbeobachtet durch das Mental, von ihm in ihrer Aktivität unkontrolliert. Man kann von diesem Unterbewußtsein annehmen, es enthalte das dumpfe geheime Bewußtsein, das dynamisch, aber für unsere Sinne nicht wahrnehmbar, in den Zellen, Nerven und im gesamten körperlichen Stoff tätig ist und ihren Lebensprozeß und ihre automatischen Reaktionen einander anpaßt. Zu ihm gehören auch jene niedersten Funktionsarten des versunkenen Sinnen-Mentals, die sich mehr im Tier und im Pflanzenleben auswirken. Wir sind in unserer Evolution über das Bedürfnis nach einem umfassend organisierten Wirken dieses Elements hineingewachsen. Es bleibt aber untergetaucht und insgeheim unterhalb unserer bewußten Natur am Werk. Diese dunkle Aktivität dehnt sich in einem verborgenen und verkappten mentalen Substrat aus, in das vergangene Eindrücke und alles, was aus dem vordergründigen Mental zurückgewiesen wird, hinabsinken, um dort schlafend zu verbleiben. Das kann im Schlaf oder bei jeder Abwesenheit des Mentals emporkommen und vielerlei Gestaltungen annehmen: Formen von Traum; von mechanischer Aktion oder Suggestion des Mentals; Formen von automatischer vitaler Reaktion oder von Impuls; Formen von physischer Abnormität oder nervöser Störung; Formen von Krankhaftigkeit, von ungesundem oder unausgeglichenem Verhalten. Gewöhnlich bringen wir aus dem Unterbewußten nur so viele Elemente an die Oberfläche, wie unser Sinnen-Mental und unsere Intelligenz in ihrem Wachzustand für ihre Zwecke benötigen. Wenn wir sie so aufsteigen lassen, sind wir ihrer Art, ihres Ursprungs und ihrer Wirkweise nicht bewußt. Wir begreifen sie auch nicht in ihren eigenen Werten, sondern dadurch, daß wir sie in die Wertordnung unserer wachen menschlichen Sinne und unserer Intelligenz übertragen. Diese Aufwallungen aus dem Unterbewußtsein, ihre Auswirkungen auf Mental und Körper sind aber zumeist automatisch, nicht bewußt hervorgerufen, sondern unwillkürlich. Denn wir wissen ja nichts vom Unterbewußten und können es darum auch nicht kontrollieren. Wir können nur durch eine für uns abnorme Erfahrung, zumeist in einer Krankheit oder in einer Störung unseres seelischen Gleichgewichts, unmittelbar gewisser Regungen unseres körperlichen Wesens und unserer Vitalität in dieser dumpfen, aber sehr aktiven Welt innewerden. Oder wir gewahren die geheimen Regungen des mechanischen untermenschlichen physischen und vitalen Mentals, das unserem äußeren Wesen zugrundeliegt, ein Bewußtsein, das zwar uns gehört, das aber deshalb nicht unser eigenes zu sein scheint, weil es kein Teil der uns bekannten Mentalität ist. All das und noch viel mehr lebt verborgen im Unterbewußtsein.
Es würde uns nichts helfen, wenn wir hinab ins Unterbewußte eindringen würden, um diesen Bereich zu erforschen. Denn das würde uns in eine verworrene Zusammenhanglosigkeit, in einen Schlafzustand, in eine dumpfe Trance oder eine komaähnliche Lethargie stürzen. Mentale Untersuchung oder Einsicht kann uns nur eine gewisse indirekte und konstruierte Vorstellung von diesen verborgenen Wirkweisen verschaffen. Erst wenn wir uns in das Subliminale zurückziehen oder ins Überbewußte aufschwingen und von dort herabschauen oder wenn wir uns selbst in diese dunklen Tiefen ausweiten, können wir unmittelbar und vollständig der Geheimnisse unserer unterbewußten physischen, vitalen und mentalen Natur innewerden und sie beherrschen. Dieses Innesein und diese Beherrschung sind für uns äußerst wichtig. Denn das Unterbewußte ist das Unbewußte in seinem Bemühen, bewußt zu werden. Es ist eine hilfreiche Stütze und sogar die Wurzel der niederen Seiten unseres Wesens und ihrer Bewegungen. Es fördert und verstärkt alles in uns, was sich am meisten an das Bestehende festklammert und eine Umwandlung verweigert: die dauernde mechanische Wiederkehr unintelligenten Denkens; unser Beharren in Fühlen, Empfinden, Impuls und Neigungen; unser Ausgeliefertsein an die Erstarrungen im Charakter. Das Tier in uns, aber auch das Teuflische, hat im dichten Dschungel des Unterbewußtseins seine versteckten Schlupfwinkel. Wenn ein höheres Leben oder vollständige Umwandlung der Natur erreicht werden soll, ist es unausweichlich, daß wir dorthin vordringen, Licht hineinbringen und eine feste Kontrolle errichten.
Ein noch viel machtvolleres und wertvolleres Element im Aufbau unseres Wesens ist das, was wir als das In-uns-Bewußte und als das Außerhalb-von-uns-Bewußte charakterisiert haben. Es umfaßt das ausgedehnte Wirken einer inneren Intelligenz und eines inneren Sinnen-Mentals, eines inneren Vitals und sogar eines inneren subtil-physischen Wesens, das unser waches Bewußtsein aufrecht erhält und umfaßt, das aber nicht in den Vordergrund gebracht wird, sondern, nach der modernen Bezeichnung, subliminal ist. Wenn wir aber in dieses verborgene Selbst eindringen und es erforschen können, finden wir, daß unsere wachen Sinne und unsere Intelligenz zumeist eine Auswahl von dem sind, was wir insgeheim sind oder sein können, eine veräußerlichte, stark verstümmelte und vergröberte Ausgabe von unserem wirklichen, unserem verborgenen Wesen oder ein Ausbruch aus seinen Tiefen. Unser vordergründiges Wesen ist mit dieser subliminalen Hilfe durch Evolution aus dem Unbewußten zugunsten unseres gegenwärtigen mentalen und physischen Lebens auf Erden erschaffen worden. Dieses Subliminal im Hintergrund ist eine Gestaltung, die zwischen dem Unbewußten und den umfassenderen Ebenen von Leben und Mental vermittelt, die durch das involutionäre Herabkommen erschaffen wurden und deren Druck dazu geholfen hat, die Entwicklung von Mental und Leben aus der Materie zustande zu bringen. Unsere vordergründigen Reaktionen auf das physische Dasein haben die Unterstützung durch die Aktivität dieser verhüllten Teile hinter sich. Sie sind oft deren Reaktionen, verändert durch die vordergründige mentale Wiedergabe. Ebenso ist aber jener umfassende Teil unserer Mentalität und Vitalität, der nicht eine Reaktion auf die äußere Welt ist, sondern für sich lebt oder sich nach außen auf das materielle Dasein projiziert, um es zu verwenden und zu besitzen, also unsere Personalität, das Ergebnis, das Amalgam von Mächten, Einflüssen, Motiven, die aus dieser machtvollen innerlich-bewußten, geheimen Sphäre hervorgehen.
Das Subliminal dehnt sich wiederum in ein uns umhüllendes Bewußtsein aus, durch das es die Wellen aus den Energie-Strömen und Stromkreisen empfängt, die sich vom universalen Mental, vom universalen Leben und den universalen subtileren Materie-Kräften her auf uns ergießen. Diese sind uns an der Außenseite nicht wahrnehmbar, werden aber von unserem subliminalen Selbst wahrgenommen und empfangen. Sie werden in Formen umgewandelt, die unser Dasein ohne unser Wissen machtvoll beeinflussen können. Wäre die Wand, die dieses innere Dasein vom äußeren Selbst trennt, durchstoßen, wir könnten die Ursprünge unserer gegenwärtigen Mental-Energien und Lebens-Aktion erkennen und mit ihnen umgehen. Wir könnten ihre Ergebnisse beherrschen, statt ihnen unterworfen zu sein. Aber wenn auch weite Teile davon beim Durchstoßen der Trennungswand, wenn wir so in das Innere schauen oder zu einer freieren Kommunikation mit dem Innern gelangen, von uns erkannt werden könnten, können wir doch nur dadurch, daß wir in unser Inneres, hinter den Schleier des äußeren Mentals eindringen und im Innern, in einem inneren Mental, einem inneren Leben und einer innersten Seele leben, unseres Selbsts vollständig innewerden, nur hierdurch und wenn wir uns auf eine Ebene unseres Mentals emporschwingen, die höher liegt als die von unserem wachen Bewußtsein bewohnte. Ergebnis eines solchen verinnerlichten Lebens wäre die Ausweitung und Vervollkommnung unseres gegenwärtigen evolutionären Zustands, der jetzt noch sehr behindert und verstümmelt ist. Eine Entwicklung darüber hinaus kann aber nur zustande kommen, wenn wir dessen bewußt werden, was jetzt noch für uns überbewußt ist, wenn wir zu den ursprünglichen Höhen des Geistes emporsteigen.
Zu der Überbewußtheit jenseits unserer gegenwärtigen Bewußtseinsebene gehören ebenso die höheren Bereiche des mentalen Wesens wie die ursprünglichen Höhen des Supramentalen und des rein Spirituellem. In einer aufsteigenden Evolution wäre der erste unentbehrliche Schritt, unsere Bewußtseins-Kraft in diese höheren Bereiche des Mentals zu erheben, aus denen wir jetzt schon, ohne deren Ursprung zu kennen, viel von unseren umfassenderen mentalen Regungen empfangen. Das sind besonders jene, die mit mehr Macht und hellerem Licht kommen, die offenbarenden, inspirierenden und intuitiven. Auf diesen mentalen Höhen und in diesen ausgedehnten Weiten könnte, wenn es dem Bewußtsein gelingen würde, sie zu erreichen oder sich dort zu behaupten und zu zentrieren, etwas von der unmittelbaren Gegenwart und Macht des Geistes, etwas – wenn auch nur sekundär oder mittelbar – vom Supramental ersten Ausdruck finden. Es könnte sich hier in seinen Anfängen offenbaren, in die Lenkung unseres niederen Wesens eingreifen und helfen, es umzuformen. Durch die Kraft des umgewandelten Bewußtseins könnte dann die Evolution in sublimerem Aufstieg weiter emporgelangen und über das Mental hinaus in das Supramental und in die höchste spirituelle Natur eingehen. Es ist möglich, daß wir ohne tatsächlichen Aufstieg in diese jetzt noch überbewußten mentalen Ebenen kommen, daß wir ohne ständig oder dauernd in ihnen zu leben, bis zu einem gewissen Grad von unserer konstitutionellen und psychologischen Unwissenheit befreit werden, daß wir für sie offen sind und etwas von ihrem Wissen und ihren Einflüssen empfangen. Wir können unserer als spiritueller Wesen bewußt werden und, wenn auch unvollkommen, unser normales menschliches Leben und Bewußtsein spiritualisieren. Es könnte dazu kommen, daß wir bewußt mit dieser höheren erleuchteten Mentalität in Kommunikation treten und von ihr gelenkt werden. Wir könnten ihre erleuchtenden und umwandelnden Kräfte empfangen. Das liegt im Bereich des hoch entwickelten oder des spirituell erwachten menschlichen Wesens. Aber das wäre nicht mehr als nur eine vorläufige Stufe. Um vollständige Erkenntnis des Selbsts, ein umfassendes Bewußtsein und die volle Macht des Wesens zu erlangen, ist es notwendig, daß wir über die Ebene unseres normalen Mentals emporkommen. Solches Emporkommen ist gegenwärtig in einer vertieften Überbewußtheit möglich. Das führt aber nur dazu, daß wir in diese höheren Bereiche in einem Zustand unbeweglicher oder ekstatischer Trance eintreten. Wenn die Herrschaft des höchsten spirituellen Wesens über unserem wachen Leben errichtet werden soll, muß es dazu kommen, daß wir uns bewußt in unermeßliche Bereiche eines neuen Wesens erhöhen und ausdehnen, in ein neues Bewußtsein, in neue Wirkmöglichkeiten des Handelns und daß wir, so vollständig wie möglich, unser gegenwärtiges Wesen, Bewußtsein und Handeln mit empornehmen und in göttliche Werte umwandeln. Das alles würde eine Umgestaltung unseres menschlichen Daseins bewirken. Denn überall da, wo ein radikaler Übergang vollzogen werden muß, gibt es in der Methode der Natur, wie sie über sich selbst hinauskommt, immer diese dreifache Bewegung: Emporsteigen – Ausweitung von Feld und Basis – Integration.
Jede solche evolutionäre Umwandlung muß notwendiger weise eng verbunden sein mit einer Zurückweisung unserer gegenwärtigen, einengenden, zeitbedingten Unwissenheit. Denn wir leben nicht nur jetzt von einem Augenblick zum anderen, unser Ausblick ist eingeengt durch unser Leben in dem jetzigen Körper zwischen einer einzigen Geburt und dem Tod. So wie unser Blick nicht weiter in die Vergangenheit zurückreicht, so reicht er auch nicht weiter in die Zukunft. Wir sind darum durch unsere physische Erinnerung und unser Bewußtsein des gegenwärtigen Lebens in einer vergänglichen körperlichen Gestaltung eingeschränkt. Diese Begrenztheit unseres zeitbedingten Bewußtseins hängt zuinnerst davon ab, daß unsere Mentalität ausschließlich auf die materielle Ebene und das materielle Leben konzentriert ist, in dem sie gegenwärtig handelt. Diese Begrenzung ist kein Gesetz des Geistes, sondern eine vorübergehende Vorkehrung für ein beabsichtigtes erstes Wirken unserer offenbaren Natur. Wenn dieses vordringliche Interesse abgeschwächt oder aufgegeben, eine Ausweitung des Mentals bewirkt und eine Öffnung ins Subliminale und Überbewußte, in das innere und höhere Wesen geschaffen wird, ist es möglich, daß wir unser immerwährendes Dasein in der Zeit ebenso realisieren wie unser ewiges Sein jenseits von ihr. Das ist wesentlich, wenn wir unsere Selbst-Erkenntnis in den richtigen Brennpunkt rücken wollen. Denn gegenwärtig ist unser ganzes Bewußtsein und Wirken durch eine irrige spirituelle Perspektive verfälscht, die uns daran hindert, die Natur, den Zweck und die Bedingungen unseres Wesens in der richtigen Proportion und Relation zu sehen. In den meisten Religionen wird die Überzeugung von der Unsterblichkeit deshalb zu einem so lebenswichtigen Gesichtspunkt erhoben, weil sie eine sich selbst bezeugende Notwendigkeit ist, wenn wir über die Identifizierung unseres Selbsts mit dem Körper und über dessen vordringliches Interesse an der materiellen Ebene hinauskommen wollen. Aber ein solches Fürwahrhalten ist nicht ausreichend, um diesen Fehler unserer Perspektive gründlich zu verändern. Die wahre Selbst-Erkenntnis unseres Wesens in der Zeit kann uns nur dann zuteil werden, wenn wir im Bewußtsein unserer Unsterblichkeit leben. Wir müssen zu einem greifbaren Empfinden für unser dauerndes Wesen in der Zeit und für unser zeitloses Sein erwachen.
Denn in ihrem fundamentalen Sinn bedeutet Unsterblichkeit nicht nur irgendein personales Überleben des körperlichen Todes. Wir sind unsterblich dadurch, daß unser Selbst ohne Anfang und Ende ewig ist. Es steht über aller Aufeinanderfolge der physischen Geburten und Tode, durch die wir hindurchgehen, jenseits der Veränderungen unseres Daseins in dieser Welt oder in anderen Welten. Das zeitlose Sein des Geistes ist die wahre Unsterblichkeit. Zweifellos gibt es auch eine sekundäre Bedeutung dieses Wortes, die ihre Wahrheit besitzt. Denn als natürliche Folge der wahren Unsterblichkeit gibt es die Kontinuität unseres in der Zeit verlaufenden Seins und unserer Erfahrung von einem Leben zum anderen, von einer Welt zur anderen, nach Auflösung des physischen Körpers. Das ist aber eine natürliche Konsequenz unserer Zeitlosigkeit, die sich hier als ein unaufhörliches Fortbestehen in der ewigen Zeit zum Ausdruck bringt. Diese Realisation zeitloser Unsterblichkeit entsteht dadurch, daß wir das Selbst in der Nicht-Geburt und in dem Nicht-Werden, sowie den unwandelbaren Geist in unserem Innern erkennen. Die Realisation der Unsterblichkeit gelingt, indem wir das Selbst in der Geburt und im Werden erkennen. Das wird in ein Empfinden andauernder Identität der Seele durch den Wandel von Mental, Leben und Körper hindurch übertragen. Auch das ist nicht nur reines Überleben, vielmehr Zeitlosigkeit, die in die Zeit-Manifestation übertragen wird. Durch die erste Realisation werden wir vom verfinsternden Unterworfensein unter die Kette von Geburt und Tod befreit. Das ist das höchste Anliegen vieler indischer Disziplinen. Wenn die zweite Realisation der ersten hinzugefügt wird, können wir in freier Weise, mit der rechten Erkenntnis, ohne Unwissenheit, ohne durch die Kette unserer Handlungen gebunden zu sein, die Erfahrungen des Geistes in seinen zeitlosen Aufeinanderfolgen besitzen. Eine Realisation des zeitlosen Seins an sich könnte nicht die Wahrheit dieser Erfahrung des in der ewigen Zeit andauernden Selbsts beinhalten. Eine Realisation des Überlebens des Todes könnte an sich unserem Dasein noch Raum geben für einen Anfang und ein Ende. Wenn wir aber jede dieser beiden Realisationen wahrhaft als Seite und Gegenseite der einen Wahrheit ansehen, ist es die Substanz des Wandels, daß wir bewußt in der Ewigkeit leben und nicht in der Gebundenheit an die Stunde und an die Aufeinanderfolge des Augenblicks. So zu existieren ist die erste Bedingung für das göttliche Bewußtsein und für das göttliche Leben. Von dieser inneren Ewigkeit des Wesens her Verlauf und Prozeß des Werdens zu besitzen und zu lenken, ist die zweite, die dynamische Bedingung. Spiritueller Selbst-Besitz und Selbst-Meisterschaft ist ihr praktisches Ergebnis. Diese Umwandlungen sind nur möglich, wenn wir uns aus dem uns aufzehrenden Interesse am Materiellen zurückziehen – was jedoch nicht eine Zurückweisung oder Mißachtung des Lebens im Körper notwendig macht – und ständig auf den inneren und höheren Ebenen des Mentals und des Geistes leben. Denn das Emporheben unseres Bewußtseins in sein spirituelles Prinzip wird dadurch bewirkt, daß wir emporsteigen und nach innen zurücktreten – diese beiden Bewegungen sind wesentlich –, heraus aus unserem vergänglichen Leben von Augenblick zu Augenblick in das ewige Leben unseres unsterblichen Bewußtseins. Damit kommen wir aber auch zu einer Ausweitung unseres Bewußtseins und unseres Aktionsfeldes in der Zeit. Wir nehmen unser mentales, vitales und körperliches Dasein mit empor und geben ihm eine höhere Verwendung. Daraus entsteht die Erkenntnis unseres Wesens. Es ist nun nicht länger ein vom Körper abhängiges Bewußtsein sondern ewiger Geist, der alle die Welten und Lebensabläufe für eine mannigfaltige Selbst-Erfahrung verwendet. Wir erkennen, daß unser Wesen eine spirituelle Wesenheit ist, die ein beständiges Seelen-Leben besitzt, das seine Aktivitäten durch aufeinanderfolgende physische Daseinsabläufe entwickelt, ein Wesen, das sein eigenes Werden bestimmt. Mit dieser Erkenntnis, die nicht ideativ ist, sondern die wir in unserer Stofflichkeit fühlen, wird es uns möglich, nicht als die Sklaven eines blinden Zwanges von karma, sondern als Meister unseres Wesens und unserer Natur zu leben, allein dem Göttlichen Wesen in unserem Innern untertan.
Zugleich werden wir aber auch frei von der ichhaften Unwissenheit. Denn solange wir an irgendeinem Punkt durch diese gebunden sind, muß das göttliche Leben entweder unerreichbar oder in seinem Selbst-Ausdruck unvollkommen sein. Das Ich verfälscht unsere wahre Individalität, indem es sich mit diesem Leben, diesem Mental und diesem Körper identifiziert und auf diese Weise selbst begrenzt. Das Ich bewirkt eine Trennung von anderen Seelen, was uns in unsere individuelle Erfahrung einmauert und daran hindert, als universales Individuum zu leben. Das ist Lostrennung von Gott, unserem höchsten Selbst, der das Eine Selbst in allen existierenden Wesen und der Göttliche Bewohner in unserem Innern ist. Wenn sich nun unser Bewußtsein in die Höhe, Tiefe und Weite des Geistes umwandelt, kann das Ich dort nicht weiter leben. Es ist zu klein und zu schwach, als daß es in dieser ungeheuren Weite bestehen könnte. Darum löst es sich in ihr auf. Denn es existiert durch seine Begrenzungen und geht mit deren Verlust zugrunde. Das Wesen bricht aus seiner Gefangenschaft in einer abgesonderten Individualität aus. Es nimmt das kosmische Bewußtsein an, in dem es sich mit dem Selbst und dem Geist, mit Leben, Mental und Körper aller Wesen identifiziert. Oder es bricht nach oben aus, zu einer erhabenen Gipfelhöhe, Unendlichkeit und Ewigkeit des Selbst-Seins, unabhängig von seinem kosmischen oder seinem individuellen Dasein. Das Ich fällt in sich zusammen. Es verliert dabei seine Trennungswand und weitet sich in die kosmische Unermeßlichkeit aus. Oder es versinkt ins Nichts, unfähig, in den Bereichen spirituellen Äthers zu atmen. Wenn durch Gewohnheit der Natur noch etwas von seinen Regungen übrig bleibt, so fallen nun auch diese weg und werden durch ein neues apersonal-personales Schauen, Fühlen und Handeln ersetzt. Dieses Verschwinden führt aber nicht zur Zerstörung unserer wahren Individualität, unseres spirituellen Seins. Denn dieses war immer universal und eins mit der Transzendenz. Vielmehr kommt es zu einer Transformation, die das trennende Ich durch den purusha ersetzt, durch ein bewußtes Angesicht und eine Gestalt des universalen Wesens, durch das Selbst und die Macht des transzendenten Göttlichen Wesens in der kosmischen Natur. In derselben Bewegung kommt es gerade durch dieses Erwachen in den Geist zu einer Auflösung der kosmischen Unwissenheit. Denn wir haben nun das Wissen von uns selbst, daß wir unser zeitloses unveränderliches Selbst sind, das sich innerhalb des Kosmos und jenseits davon besitzt. Dieses Wissen wird zur Grundlage für das Göttliche Kräfte-Spiel in der Zeit. Es hebt den Widerstreit zwischen dem Einen und den Vielen auf. Es versöhnt die ewige Einheit mit der ewigen Vielheit. Es vereinigt wieder die Seele mit Gott und entdeckt das Göttliche Wesen im Universum. Durch diese Realisation können wir uns dem Absoluten als dem Ursprung aller Verhältnisse und Beziehungen nahen. Wir können die Welt in uns selbst in äußerster Weite und bewußter Abhängigkeit von ihrem Ursprung besitzen. Wenn wir sie so nehmen, heben wir sie empor und realisieren durch sie die absoluten Werte, die alle im Absoluten konvergieren. Wenn so unsere Selbst-Erkenntnis in all ihren wesenhaften Seiten vollkommen geworden ist, wird unsere praktische Unwissenheit, die sich in ihren Extremen als Missetat, Leiden, Lüge und Irrtum darstellt und die Ursache aller Verwirrungen und Disharmonien des Lebens ist, ihren Platz an den rechten Willen der Selbst-Erkenntnis abtreten. Ihre falschen oder unvollkommenen Werte werden dann den göttlichen Werten der wahren Bewußtseins-Kraft und des ananda weichen. Für rechtes Bewußtsein, rechtes Handeln, rechtes Wesen – nicht im unvollkommenen Sinn unserer kleinlichen Moral sondern in der weiten, erleuchteten Bewegung eines göttlichen Lebens – sind die Einung mit Gott, die Einheit mit allen Wesen, ein Leben, das gelenkt und geformt wird von innen nach außen, Voraussetzung. In ihm wird der Ursprung für alles Denken, Wollen und Handeln der Geist sein, der durch die Wahrheit und das göttliche Gesetz wirkt. Beide werden nicht durch das Mental der Unwissenheit erfaßt und konstruiert, sondern sind selbst-seiend und in ihrer Selbst-Erfüllung spontan. Sie sind nicht so sehr Gesetz als vielmehr die Wahrheit, die in ihrem eigenen Bewußtsein und in einem freien, erleuchteten, formbaren, selbsttätigen Verfahren ihres Wissens handelt.
Es hat demnach den Anschein, Methode und Ergebnis einer bewußten spirituellen Evolution ist: die Transformation des Lebens der Unwissenheit in das göttliche Leben des der Wahrheit bewußten Geistes; die Umwandlung aus der mentalen in eine spirituelle und supramentale Art des Wesens; die Selbst-Ausweitung aus der siebenfachen Unwissenheit in das siebenfache Wissen. Diese Transformation wäre die natürliche Vollendung des aufwärts gerichteten Prozesses der Natur, wenn sie die Kräfte des Bewußtseins von dem einen Prinzip zu einem anderen, höheren emporhebt, bis das höchste Prinzip, das spirituelle, in ihr ausgedrückt und vorherrschen wird, bis dieses das kosmische und individuelle Dasein auf den niederen Ebenen in seine Wahrheit empornimmt und alles in eine bewußte Manifestation des Geistes umwandelt. Das wahre Individuum, das spirituelle Wesen, tritt hervor. Es ist individuell und doch universal, universal und doch selbst-transzendent. Leben erscheint nun nicht mehr als eine Gestaltung von Dingen und als ein Handeln des Wesens, das durch die sondernde Unwissenheit erschaffen ist.